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Auf dem Kummerposten
Peter Handkes neuer Roman ueber die Schoenheit des Laecherlichen
Was vom Leben einmal uebrig bleibt in den letzten Stunden, das kann sich jeder jetzt schon ausmalen, indem er das Vergangene bedenkt. Wenn er Glueck hat, stellen sich dabei einige Bilder ein, die sein Leben auf eine besonders intensive Weise aufbewahren, so dass mit vollem Recht vom Dasein gesprochen werden kann. Von solchen erfuellten Bildern handelt Peter Handkes neuer Roman; sein Titel, =Bildverlust=, deutet schon an, dass dieses Glueck von bedrohter Art ist.

Ganz unbedroht bleibt das Bilderglueck zunaechst fuer Handkes Hauptfigur, eine um den Globus vagabundierende Finanzherrscherin von sagenumwobener Macht. Mit ihren unwirklich schwarzen, =pulsierenden= Augen schaut sie sich lieb gewordene Orte vor dem Verlassen ausforschend an, um die Details zu behalten und in ihrer inneren Bilderbank abzuspeichern. Diese =Liturgie des Behaltens= und ihre Anfaelligkeit fuer die Wahrnehmung ueberstarker, aus der Erinnerung oder, mehr noch, wie aus der Ferne gefunkter Erscheinungen machen sie zu einer =Bankerin der Bilder=. Und diese =Bildschnuppen= wiederum machen sie stark und daseinsmaechtig, gleichwohl sie ahnt, dass die Idee des Eigentums sich mit dem unwillkuerlich einstellenden Bilderreichtum nicht lange vertragen wird.


Also macht sie sich auf zu einer moeglichst existenz- und bewusstseinserweiternden Abenteuerreise in die spanische Sierra de Gredos und beauftragt einen Autor, darueber ein Buch zu schreiben, eines, =das der Epoche zuwiderlaufe, sie umgehe, uebersteige, unterwandere=. Mit diesem Auftrag in Form eines =klassischen Lieferantenvertrags= ist sie bei Peter Handke an genau den Richtigen geraten.

Von den ersten Seiten an ist dem Buch der eiserne Wille anzumerken, ein Werk entstehen zu lassen, wie es noch keines gab. Das plustert, spreizt und ziert sich, das stakst und stelzt, als wollte es vor allem eines sagen: Ich bin was Besonderes. Schon auf der vierten Seite ist man versucht, das Buch genervt in die Ecke zu feuern - die Finanzmagnatin denkt da ueber ihre Ahnen nach: =Ihre verehrten Toten, so sah sie es eines Sommer- oder Wintermorgens, waren Teil der zigmilliarden seit dem Beginn der Zeiten in das Erdreich versickerten, hinweggesinterten, verkruemelten oder in saemtliche Windrichtungen verpufften Nichtmehrvorhandenen, Niewiederzurueckrufbaren, von keiner Liebe mehr Wiederbelebbaren, in alle Ewigkeit unersehnbar Gewordenen. = So geht das ueber 759 lange Seiten voran. Unsicher vor lauter Sorge um Genauigkeit wird ein Wort dem naechstaehnlichen hinterhergeschickt, wird =wie das?= gefragt und noch mal dasselbe bekraeftigt, wird in affektierter Aufrichtigkeit das Erfundene mit Attributen des Moeglichen ausstaffiert: =das kranke oder alte oder vielleicht eher gar junge Tier=. Das nervt gewaltig. Und doch: Womoeglich ist dieser gekuenstelte, selbstverliebt genaue Text wirklich etwas Ausserordentliches? Vielleicht hat er sich fuer den beabsichtigten Sprung ins Sein hinter dem Schein querstellen und abheben muessen vom Gewoehnlichen, hat sich grammatisch aufmuskeln und lexikalisch aufruesten muessen um den Preis so mancher Laecherlichkeit?

Jedenfalls entwickelt das Buch, je mehr es vorangeht, eine erstaunliche Faszination; es bekommt in all dem Praetentioesen Witz, gar Selbstironie. Und selbst wenn ab und zu die Grammatik kollabiert (=noch einen von bei sich zu Hause=), eroeffnet das Gespreizte dann doch einen Blick in eine andere Welt: Der =Bildverlust= ist ueber weite Strecken feinstes Fantasy-Genre, allerdings durch die genaue Topographie der Sierra de Gredos, westlich von Madrid, und einige aktuelle Markennamen im Hier und Jetzt erzaehlt.

In den Orten der Sierra de Gredos leben sonderbare Voelker, die nach Art der Science-fiction systematisch mit phantastischen Sozialcharakteren ausgestattet werden. In der Kunstlichtzone von Nuevo Bazar etwa, =zweitausend Lichtjahre weg von daheim und der Liebe= verwandeln sich mitgeschleppte Aggressionen stets in offene Mordlust. Es gibt Stoffe, die staendig ihre Konsistenz wechseln, Reisebusse, deren stumme Insassen ploetzlich die Gestalt alter Bekannter annehmen; Voelker, die von allem, was sie sehen, die Konturen in der Luft nachzeichnen. Das sind die Leute von Hondareda, =die Ausgespielten=, die aller Bilder verlustig Gegangenen. Ihnen, den Sonderbarsten, gehoert die ganze Liebe des Autors und seiner Heldin. Die Hondaraderos, ausserhalb als =Stuemperstamm= und =Kummerposten= verschrien, gehen der Kunst des Muessiggangs nach. Kein Kruemel gibt es ueber das Notwendigste hinaus, dafuer flanieren auf dem abendlichen Korso mit den Menschen nicht nur die Hunde, sondern auch die Packesel und =sogar die Silhouetten einiger Sierra-Igel=.

Handkes bemuehte Genauigkeit laesst das Phantastische wie entdeckt, nicht wie erfunden erscheinen, als sei das Fremde dem Vorhandenen durch instaendige Anschauung abgerungen: Mit viel Wenn und Aber, mit Einschraenkungen und Praezisierungen werden maerchenhafte Szenerien von grosser Stimmigkeit und Verruecktheit zugleich entwickelt.

Handkes Ton kann beides: nerven und die Nerven schaerfen. Seine Imaginationen sind oft von physiologischer Praezision, etwa in der Beschreibung der Haupt- und Nebengeraeusche fallender Eicheln in stockfinsterer, ansonsten geraeuschloser Nacht, die sich ausweiten zum =Eichelxylophon und mehr und mehr auch -vibraphon=. Aus dem Zusammenhang gerissen, liest sich das wie blanker Irrsinn. Nichts ist deshalb leichter, als sich ueber dieses Buch lustig zu machen mit seinen pathetischen Donquichotterien im Kampf um eine Sprache, die sich aus den Fallen des Selbstverstaendlichen herauswinden koennte.

Handke schaetzt das Einleuchtende hoeher als das Glaubwuerdige, am hoechsten aber das einleuchtend Irrwitzige. So irrwitzig und klar wie die poetologische Konstruktion seiner Heldin, die weiss, dass ihre Geschichte unmittelbar Literatur wird, weil sie ja den Autor fuer das Aufschreiben ihrer Erlebnisse bezahlt. Einmal uebernimmt sie tollkuehn das Steuer eines Reisebusses und da =spuert sie einen Ruck durch die Geschichte gehen, fuer welche sie unterwegs ist=.

Es gibt im =Bildverlust= eine Botschaft, einen nicht unbedingt ausschlaggebenden ideologischen (Fortsetzung auf Seite 11).

(Fortsetzung von Seite 9) UEberbau: Die Hondaraderos sind aus dem globalen Netz der Medien gefallen, auf Grund des =Raubbaus= an Bildern insbesondere im vergangenen Jahrhundert haben sie den Bildern abgeschworen und ueben sich stattdessen in primaerer Anschauung. Als =Depressionsvolk in der grossen Senke=, sozusagen im Tal der Ahnungslosen, leben sie ausserhalb der Vorstellungen, die weltweit unseren Alltag regeln. Die besorgte internationale Gemeinschaft nimmt nun die Abtruennigen unter verstaerkten Bildbeschuss ihrer multimedialen Kommunikationswaffen. Doch selbst die Riesenbilder, die man von aussen auf die Felsen projiziert, werden in Hondareda schlicht uebersehen. Deshalb liegt eine drohende Intervention in der Luft, um den =Einzelgeher-Kral= wieder in die Zivilisation zurueckzufuehren. Schon kreisen drohend Hubschrauber und Bomber ueber dem Dorf. Der interventionsluesterne deutsche Aussenminister taucht kurz in Jogginghosen auf.

Nachtragend, wie er nun mal ist, schiebt Handke den medienkritischen Versatzstuecken seines Buches Reminiszenzen an sein geliebtes, von ihm einsam unterstuetztes Serbien unter Milosevic unter, das als verfemte =Rueckfallrotte= von Hondareda diesmal einsam von der Bankerin verteidigt wird. An ihr, der Bildmaechtigen par excellence, =erfuellt= sich schliesslich der Bildverlust ebenfalls: Sie will nicht mehr mittun im =Weltbedeutungsspiel=. Aus der Vertreterin der Gobalisierung wird eine Serbin im Geiste, eine Serbin von der phantastischen Gestalt.

Peter Handke, der sich an vielen Stellen auf Miguel de Cervantes beruft, traegt mit dieser grosssprecherischen und etwas einfaeltigen Parabel ein ideologisches Fundament fuer sein poetisches Programm nach, das seit seinen jugendlichen Provokateurstagen das gleiche geblieben ist: Man muesse, um in die Welt hineinzukommen, aus dem gelaeufigen Denken heraustreten. Diese exzentrische Flucht macht das Buch freilich nicht anschlussfaehig an irgendeinen politischen oder philosophischen Diskurs. Aus allen theoretischen Blickwinkeln bleibt es schoen und laecherlich zugleich.

Das grosse Gegenbuch zur Gegenwartsliteratur ist daraus wieder nicht geworden. Handke ist nicht der Einzelgaenger, der er gerne waere; dazu hat er zu viel gemein mit Georg Klein etwa oder Brigitte Kronauer. Aber es ist ein Gegenbuch zu Hugo von Hofmannsthals kurzem =Brief des Philipp Lord Chandos an Francis Bacon=, jenem Schluesseltext der Moderne aus dem Jahr 1925, der vom Sprachverlust handelt. Chandos zerfielen die einst Zusammenhang stiftenden Worte zu den beruehmten =modrigen Pilzen=. Nur in wort- und begriffslosen Bildern sprach die Welt ihn noch in einiger Fuelle an. Rund 75 Jahre spaeter sind auch die Bilder verschlissen; fuer einen Dichter aber ist der Bildverlust ein ungleich geringeres Risiko als der Sprachverlust.

Mit seiner abstrakten Botschaft markiert Handke Anfang und Ende der Epoche, wie ein Hund sein Revier markiert, um dann das zu produzieren, wovon Dichter immer traeumen: Sein Buch moege am Ende beim OEffnen =einen Laut von sich oeffnenden Lippen= geben und einen Leser finden, wie seine Bankerin liest: =ein Lesen, wie nur je eines: buchstabierend, lautlos die Lippen bewegend, hier und da einen Wort-Laut ausstossend, und noch einmal, und noch einmal, innehalten=: ein =Sich-in-die-Welt-hinaus-Lesen=.

Der Kritiker jedenfalls ist auf diesem Weg, trotz seines Widerstrebens, bisweilen ausser Sichtweite geraten.

Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002. 759 S. , 29,90 Euro.

Von Hellmut Butterweck

Ein Wundertier bricht auf. Die beruehmt-beruechtigte Bankmanagerin hat nicht nur enorme Macht. Sie war auch der Star eines Films, =der immer noch in bestimmten Kinos nicht nur in Europa gezeigt wurde, auch in Zwischenschnitten waehrend ihrer Televisionsauftritte=, hat nicht nur Ginevra, die Frau des Koenigs Artus gespielt. Sie verfuegt auch ueber magische Faehigkeiten. Mit Bildern, die ihr zufliegen, haelt sie sich =die Angreifer nicht bloss vom Leibe. Sie schlug damit zurueck. = Mit den Bildern hatte sie es in der Hand, den anderen buchstaeblich niederzumachen und ,auszuschalten+=. Kommt ihr zum Beispiel auf dem Flughafen ein Berufsfeind in die Quere, genuegt ein Bild in ihr, ein Blick von ihr, schon fliegt =sein Metallkoffer weggeschmettert durch die Halle=, na so was.
Autofahren kann das Wundertier wie der Teufel, fuer den unpaesslichen Busfahrer in der Sierra de Gredos lenkt sie das schwere Ding rasant =kreuz und quer ueber kaum von gar vereinzelten Zwergkiefern bebuschte Almen=, nachtwandlerisch, Nachtwandlerin war sie uebrigens auch. Ihren Namen erfahren wir nicht, was aber nichts ausmacht, hat sie doch wenig von einem Menschen an sich. Die Figur, die Peter Handke fuer seinen Roman =Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos= eingefallen ist, aehnelt zunaechst auf befremdliche Weise einer Projektionsflaeche fuer die Allmachtphantasien eines Halbwuechsigen.
Die Frau, die schliesslich bei dem von ihr engagierten Ghostwriter ankommt, ist ein anderes Wesen. Bar aller menschlichen Eigenschaften noch immer, Projektionsflaeche noch immer, nun aber eines Zustandes, ueber den man nur raetseln kann: Hat Peter Handke den letzten Rest von Selbstkritik ueber Bord geworfen? Oder ist ihm die Kontrolle ueber sein Schreiben entglitten?
Die Managerin, =die Abenteurerin=, meist aber einfach =sie=, verlaesst also ihr Haus in einer Stadt, von der wir nur erfahren, dass dort zwei Fluesse ineinander fliessen, um zu Fuss zum Flughafen zu gehen, was eine ihrer Marotten ist. Auf dem Weg zum Ghostwriter macht sie einen Umweg ueber die Sierra de Gredos, nicht zuletzt, um dort einen vor Jahren auf einer frueheren Wanderung verlorenen schwarzen Wollschal wiederzufinden. Ihre Tochter ist vor laengerem unter Zuruecklassung eines Arabisch-Heftes verschwunden, was Handke Gelegenheit gibt, uns an vielen, allzu vielen Stellen mit der Kenntnis arabischer Vokabeln zu beeindrucken. Mit dem bereit stehenden Wagen kommt sie nicht weit, wo er abgestellt war, erhebt sich nach einer UEbernachtung ein Rohbau, der Wagen ist zertruemmert und ausgebrannt. =Kein Staunen: sie hatte das schon getraeumt. Kein Gedanke auch etwa an eine Anzeige, vielmehr: ,Recht so. Auf. Jetzt kann es losgehen.+=
Der Bus, mit dem Handkes Wundertier die Reise fortsetzt, ist eigentlich kein Bus, sondern eine Bibliothek, oder vielleicht eine Metapher, worauf immer, jedenfalls ein Fahrzeug, dessen Insassen =so zwischen Beunruhigung und Sanftmut fuereinander offen und durchlaessig wurden=, worauf eine Kette von Abenteuern folgt, die eigentlich innere sind, von Reisestationen, die moeglicherweise eigentlich solche einer Entwicklung sind, bis die Ex-Managerin, die Abenteurerin, =sie=, das letzte und schwerste Stueck zu Fuss zuruecklegt. Nach einem schweren Sturz in ein unter Farnen verborgenes Loch, das sich als Bildverlust-Grube erweist, trifft sie in heruntergekommenem Zustand im Mancha-Dorf ihres Biographen ein.
Jede Geschichte laesst sich durch simple Nacherzaehlung denunzieren, selbst die absurdeste kann funktionieren. Dass Handkes neues Buch zu einer Lektuere von toedlicher Langweiligkeit geriet, liegt nicht am Handlungsskelett, sondern am allzu ueppigen, ueberbordenden, jede Struktur sprengenden Erzaehlfleisch. Die Sprache wirft Sprechblasen, Simpelstes wird seitenfuellend aufgeblaeht, ein Weitblick ostwaerts bis zum Escorial genuegt nicht, nicht einmal die offene Leere, offen und auch noch offenbar muss sie sein: =durch die offene und offenbare Leere bis zum Escorial= muss er gehen, der Blick (und dann sowieso weiter bis zur Beringsee): Handkes Sprache wird schwer und immer schwerer vom Erzaehlspeck, bis der Geschichte der Woerterbauch ueber die Knie haengt und die duennen Fuesschen der Handlung unter der Last nachgeben.
Detailfixiertheit waechst sich zur Lawine aus, unter der jedes Leben erstirbt. Eine ohnehin noch kurze Stelle mag fuer hunderte Seiten aehnlicher Art stehen: =Vorherrschend waehrend der Hondureda-Episode waren ganz andere Zeiteinheiten, gleichsam taktlose, kraeftig verdichtete, zusammengeballte und dabei ausgedehnte, nach vor und zurueck ausschwingende, und darum aber auch ohne den Ticktack-Takt in einem gar nicht geringeren Gleichmass, fort und fort. = Im Unterschied zu den in der Mulde sich ohne Zutun oder Willkuer auspraegenden, alteingefuehrten ebenso wie frischgebildeten Wegmassen = ,einen Steinwurf weit weg+, ,im Steinbocksprungabstand+, ,in Fernglastiefe+, usw. - stellten sich fuer das jetzt in Kraft stehende Zeitmass keinerlei besondere Bezeichnungen ein, auch nicht etwa ,in einem Halbschlafaugenblick+ oder ,nach einer zweiten Traumnacht+; denn es handelte sich um keinen Traum. Hoechstens kam vielleicht einmal ,einen Windstoss spaeter+ oder ,und nach wieder einem Hammerschlag+ oder ,vor dem naechsten Umblaettern+ oder das zwar ausgeleierte, fuer die Hondaredazeit aber wieder etwas besagende ,im Handumdrehen+ oder ,nach einem langen Augenblick+=
Und so weiter, in feierlich getragenem Ton gleichmaessig immer weiter fort, in endloser Suada, bis endlich Seite 759 und damit das Ende erreicht ist. Handkes juengste Prosa wirkt zwanghaft immer weiter aufquellend, immer formloser mit dem Fortgang der rudimentaeren und immer rudimentaereren und sowieso etwas inferioren Handlung. Der Autor kann offenbar die Worte nicht mehr halten und auf keine Arabeske verzichten und verliert sich in der eigenen bedeutungsschweren, von Pseudobedeutung schweren Beliebigkeit. Die Geschichte spielt in einer unbestimmbaren Zukunft. Die reale Sierra de Gredos wird zum mythischen Land, in dem manches, etwa der Ort Nuevo Bazar, ans verwuestete Jugoslawien erinnert. Die obligaten Ausfaelle gegen jene, die ueber die Rolle Serbiens anderer Meinung als Handke sind, fehlen auch in diesem Buch nicht. Doch sie wirken nur noch wie eine muede Pflichtuebung.
Eine Weile folgt man mit Interesse, bis zur Mitte kann man mit dem Text noch rechten, zuletzt macht man sich nur noch Sorgen um Handke. Es fehlen zwar nicht die Aufschwuenge, die grossen Saetze, Stellen, an denen man den einst Sprachgewaltigen erkennt. Doch sie sind spaerlich. Vielleicht die erhellendste Stelle: =Jeder hat seinen Wahnsinn in sich = Und der Wahnsinn ist auch schon einmal ausgebrochen, oder mehrmals. Jeder hat seinen Wahnsinnsausbruch hinter sich. Nur tun wir alle, oder die meisten von uns, als sei nichts gewesen.=
DER BILDVERLUST oder
Durch die Sierra de Gredos.
Roman von Peter Handke
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002
760 Seiten, geb., e 30,80


Portraet des Dichters als Konsument

Neugier und Vertrauen erweckend: Kritische Arbeiten von Peter Handke aus den letzten zehn Jahren

Von Michael Rutschky


Dass Peter Handke als Kritiker zu lesen lohnt, weiss man seit dem
Band Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972). Besonders beeindruckt er als Kinogeher - so hat er Walker Percys Romantitel The Moviegoer uebersetzt, und zu den Distinktionsgewinnen, an denen mir liegt, gehoert die Selbstbeschreibung Kinogeher (statt -gaenger), woran unseresgleichen sich erkennt (und von den Cineasten unterscheidet).

Was Peter Handke besonders legitimiert, wenn er sich ueber Kino aeussert: dass er sich extensiv Filme anschaut, ohne Ruecksicht auf Kulturverluste gewissermassen. In dem Band von 1972 finden sich merkwuerdige Beobachtungen zu Heimatfilmen, die er auch noch in Landkinos ansah; in dem neuen Band ist vermerkt, dass das regelmaessige Kinogehen wieder einsetzte, am Nachmittag, wenn+s noch hell ist, und ihm die Kenntnis von True Lies (mit Arnold Schwarzenegger) und Timecop (mit Jean-Claude van Damme) einbrachte.


Der Kinogeher verschmaeht Dreck nicht - was mich dann aber richtig bezauberte: dass Handke als raborn moviegoer sich von zwei Regisseuren begeistern liess, die auch gleich meine Favoriten waren: Quentin Tarantino und Ate Egoyan. Solche spontanen UEbereinstimmungen sind Kinogehern kostbar. Dazu kam die Beobachtung, die ich fuer mein hoechstpersoenliches Eigentum hielt: dass Tarantino mit Eric Rohmer vergleichbar ist. UEberhaupt verdanken wir gewissen amerikanischen Regisseuren inzwischen die Filme, mit denen uns frueher die franzoesischen erfreuten.

Das Vorwort des Bandes von 1972 endet mit dem Satz: =Es waere schoen, wenn man moeglichst viele dieser Texte als Geschichten lesen koennte.= Inzwischen hat Handke seine Kompetenzen, in diesem Sinne auch Kritiken als Geschichten zu erzaehlen, erheblich perfektioniert. Dabei folgt er einer Regel, die auch seine Erzaehlbuecher leitet - wenn man es so sagen kann - und deren Fruchtbarkeit ich kuerzlich mit wirklicher Verblueffung konstatieren musste, als ich doch noch Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) las: Man folgt Handkes Saetzen mit Neugier und Vertrauen, ohne sagen zu koennen, wovon sie eigentlich handeln. Bei den 1067 Seiten der Niemandsbucht ist das wirklich ein ganz ausserordentliches Kunststueck.

Wenn Handke ueber Filme, Buecher und Bilder redet und schreibt, liegen die Dinge etwas anders, weil ich ja weiss, wovon John Fords The Man Who Shot Liberty Valance handelt, der Film gehoert auch zu meinen liebsten. Und die Malerei Emil Schumachers zu studieren - zu der Handke einen Katalogbeitrag verfasste -, lasse ich mir selten eine Gelegenheit entgehen.

Gleichwohl, was Handke zu John Fords Film zu erzaehlen hat, betrifft das verlorene Kino in einem Grazer Vorort, das den Film nur verstuemmelt zeigte (weshalb der Student gar nicht mitbekam, dass John Wayne der Mann war, der Liberty Valance erschoss, wofuer aber James Stewart den Ruhm erntet); =Braeuhauslichtspiele= hiess das Kino vermutlich, und Handke erzaehlt uns eindrucksvoll von dem Zustand profaner Erleuchtung, in welchen er nach den Kinobesuchen nachhause zu gehen vermochte. =Ja, nach The Man Who Shot Liberty Valance bekam ich Appetit auf die Welt: den Wind, den Asphalt, die Jahreszeiten, die Bahnhoefe. . .= In der Tat, der Zustand in dem man das Kino verlaesst, insbesondere nach einer Nachmittagsvorstellung, gehoert unbedingt zur Sache selbst dazu. - Und was Emil Schumacher angeht, so werde ich mir Handkes Beobachtungen, dass diese Malerei Landschaft ebenso wie Schrift sei, fuer die naechste Gelegenheit merken. Schumachers Bilder sind reproduktionsresistent, mit Katalogen und Monographien kommt man nicht zurande.

Als kritische Arbeiten gehoeren die zwischen 1992 und 2002 entstandenen Texte des neuen Bandes Muendliches und Schriftliches, im wesentlichen zu ein und demselben Genre: der Lobrede - im Allgemeinen kein weit verbreitetes oder gar kunstvoll gehandhabtes Genre. Tatsaechlich handelt es sich bei den Reden auf Hermann Lenz und Arnold Stadler, Georges-Arthur Goldschmidt, Josef W. Janker und Ralf Rothmann um Laudationes bei Preisverleihungen. Gewiss laesst sich das Ruehmen in Zusammenhang mit Handkes epischen Basisoperationen bringen - was hier besonders auffaellt: dass die Lobrede perfekt darauf verzichtet, einen Hintergrund des Tadels auszumalen von dem sie sich dann abheben kann. =Immer noch hat es die Kritik verabsaeumt, Josef W. Janker den Platz in der deutschen Literaturgeschichte zu verschaffen, der ihm zusteht=: keiner von Handkes Saetzen aehnelt diesem Satz. Das habe ich auch an der Niemandsbucht bewundert: dass die Auswanderung in die Vorstadtlandschaft voellig ohne die Topoi der Grossstadtkritik auskommt.

Ich gehoere zu denen, die Handkes legendaerer Zeitungsartikel von 1973 zu einem Hermann-Lenz-Leser machte, und ich verstehe jetzt nicht so richtig, weshalb seine Lobreden auf Schriftsteller in diesem Band bei mir weit weniger Wirkung zeitigen als die Schriften zu Kino und Malerei. Aber vielleicht ist das auch unwichtig. Technisch interessant ist, dass es sich wirklich um improvisierte Reden handelte, denen Handke dann nach dem Tonband eine andere Fassung gab. Man kann also das Handkesche Erzaehlen in einem anderen Aggregatzustand betrachten. Was ihn als Kritiker wohl vor allem lesenswert macht: dass er sich primaer als Kinogeher, Leser, Galeriebesucher praesentiert: vor allem ist er, um ein verbotenes Wort zu gebrauchen, Konsument - was ja der professionelle Kritiker nach laengeren Berufsjahren meist nicht mehr ist, weshalb das Feuilleton so leicht ins Gelangweilte und Schlechtgelaunte tendiert.



JUDITH FROEMMER: Die Geburt der Langeweile aus dem Geiste der Kritik: Der =neue Handke= geistert durch die Feuilletons

Schon lange ist es keine Schande mehr, Peter Handkes Romanen bestenfalls mit Unverstaendnis zu begegnen. Noch bevor man ihn, den =neuen Handke=, alle paar Jahre in den Buchlaeden erspaeht, verfliegt jede Leselust im geistreichen Gezeter des deutschen Feuilletons. Am 21. Januar war es nach fuenfjaehriger Pause wieder so weit. Ein neues Monumentalwerk des ungeliebten Dichters versorgt uns mit Gespraechsstoff fuer Treppenhaeuser und Theaterpausen - sogar ohne einen Blick in das allzu umfangreiche Baendchen geworfen zu haben.

Dabei koennte Handkes =Der Bildverlust= dank seines einpraegsamen, wenn auch keineswegs banalen Titels auf den ersten Blick fast fuer den Nachttisch taugen. Der Leser muss weder auf ueber 1000 Seiten durch die =Niemandsbucht= schippern, noch mit =Lucie im Wald= nach =den Dingsda= suchen. Eine =dunkle Nacht= im =stillen Haus= bleibt ihm ebenso erspart wie die prekaere Forderung nach =Gerechtigkeit fuer Serbien=. Nach so wenig appetitlicher Kost versprachen die vom Suhrkamp Verlag angekuendigten Abenteuer einer verschrobenen Bankerin in der spanischen Sierra de Gredos durchaus Abwechslung. Sollte hier entgegen allen postmodernen Absagen an Spannungsbogen und Dramaturgie wirkliche Handlung in die oeden Landstriche Handkescher Erzaehlkunst zurueckkehren? =Das Buch hat eine Geschichte, eine Heldin und ein paar Nebenfiguren=, stellt Thomas Steinfeld von der Sueddeutschen Zeitung staunend fest. Darf sich der Hobbyleser wider Erwarten auf einen unterhaltsamen Handke freuen?

Denkste! Nie habe man Muehsameres gelesen. Langweilig, anmassend und unlesbar - so das Fazit der professionellen Handke-Leser aus den Kulturressorts. Deren Polemik kreist zwar grossteils um ein fragwuerdiges prodesse der poetischen Politkommentare und harschen Medienschelte des Publikumsbeschimpfers. Aber das liegt wohl vor allem daran, dass man ein delectare bei diesem abtruennigen Ziehsohn der Gruppe 47 schon laengst abgeschrieben hat. Doch auch nach eingehender ideologischer Auseinandersetzung mit dem angeblichen Agitationsliteraten kommt man nicht umhin, eine stille Traene ueber die =schoene Lebenszeit, die bei der Lektuere hingegangen ist= (taz) zu vergiessen.

Erbauung versprach da schon eher die juengst publik gewordene Affaere mit der Schauspielerin Katja Flint. Und obwohl dieses nicht einmal sonderlich pikante Detail aus der Vita des Dichters wenig zur Sache tut, darf der Hinweis darauf natuerlich in keiner Romanbesprechung fehlen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung fand das =winterliche Warten auf den neuen Handke= sogar so langweilig, dass sich auf dem Aufmacherbild zur Romanankuendigung nicht Handke, sondern seine neue Flamme raekelte. Ehe die Feuilletons der grossen Tageszeitungen zum grossen Handke-Halali blasen konnten, hatte sich hier ein selbst ernannter Haeretiker zum Ziel gesetzt, die Dichterlegende von ihrem Sockel zu schubsen. Wer und ob man Handke ueberhaupt je auf diesen Sockel hob, bleibe einmal dahingestellt.

Denn das waren nur die Vorboten eines Kriegsgerichts, das den Gegenwartsautor bei jeder seiner Neuerscheinungen erwartet. Offiziell wurde der Schusswechsel am Samstag durch Rezensionen in beinahe allen grossen Tageszeitungen eroeffnet. Waehrend FAZ und WELT =Sprachboykott=, =programmiertes Scheitern= und eine =Kettenreaktion des Kitsches= diagnostizierten, war das linke Lager noch etwas gnaediger gestimmt. Die Frankfurter Rundschau verkuendigte die Laeuterung des =bad guy=. Die Kritikerin der taz fand immerhin noch die ersten Kilometer der =Mordsmarathonpapierstrecke= lesenswert. Und die Sueddeutsche Zeitung wies dem Werk mit =Praegnanz und Witz= zwei in Handkes Dunstkreis voellig unuebliche Attribute zu. Doch Lesevergnuegen wollen und koennen auch die milderen Richter nicht versprechen: Gebetsmuehlenartig wiederholt die Kritikergemeinde die hohe Seitenzahl, den predigerhaften Ton und die intellektuelle Unverdaubarkeit eines Romans, den man ohne intime Cervantes-Kenntnisse ohnehin nicht begreifen koenne. Mag sein. Doch die mit Neologismen und Querverweisen ueberladenen Hypotaxen der Sechsspalter lesen sich nicht unbedingt leichter.

Summa summarum finden sie ihn =unendlich nervtoetend= (FAZ). Doch kommen auch die missguenstigsten Federn nicht umhin, das kritische Engagement durch ein paar Gefaelligkeiten zu rechtfertigen. Ein glaenzender Stilist sei der Kaerntner schon immer gewesen. Mit der =evokativen Kraft seiner Metaphern= (WELT) und seiner =virtuosen Verknuepfung ganz unterschiedlicher Erzaehlperspektiven= (FAZ) habe der =Marquis von Prosa= ein grosses =Gegenbuch unserer aktuellen Literatur= geschrieben (SZ). Waehrend man ueber die nicht zu ueberhoerende =Empoerung und Resignation des Autor-Predigers= (taz) die Nase ruempft, spricht man dem Gegenstand des dichterischen Ressentiments seine epochale Brisanz nicht ab. Nur Handkes Stellungnahme dazu will man nicht mehr hoeren. Denn das Recht zur Meinungsaeusserung hat er offenbar in Serbien verwirkt. Nach wie vor habe man es mit einem der =lebenden Granden der deutschsprachigen Literatur= (Frankfurter Rundschau) zu tun. Nur schade, dass den Feuilletonlesern einhellig davon abgeraten wird, seine Buecher zu lesen.

3. BUECHERTISCH
Peter Handke
Der Bildverlust



Bilanz-Mystifikationen

Nach dem mit Staunen bewunderten Gross-Roman =Mein Jahr in der Niemandsbucht= (1994) hat Peter Handke durch seine drei schmalen Reisebuecher in das Serbien Milosevics (1996/99) viel von dem Kredit verspielt, den er sich mit dem mehr als tausendseitigen =Maerchen aus den neuen Zeiten= erworben hatte. Abgesehen von der offensichtlichen politischen Parteinahme fuer =das bekriegte Serbien=, war es vor allem der polemische Furor, den er gegen =den kapitalistischen Westen= mobilisierte und seine Kriegserklaerung an den Bild- & Wortjournalismus, dem er vorwarf, =falsche=, weil voreingenommene, und =luegnerische= Bilder von der jugoslawischen Realitaet zu produzieren, die Handke bei Lesern, Kollegen und Rezensenten Sympathien kostete. Dagegen stellte der oesterreichische Autor, der sich seine =slawische Herkunft= zugute hielt, seine poetischen Reise-Bilder von serbischem Land & Leuten, die er mit eigenem Auge & Ohr =vor Ort= gesehen & gehoert, also der Wirklichkeit abgenommen hatte.
Ebenso ethisch bedenklich wie poetologisch bedenkenswert wurde aber damit die Frage nach der erkenntnisfaehigen Reichweite und der Wahrnehmungsdichte von Handkes =seherischer= literarischer Bilder-Produktion, die er am lebenden Objekt eines ethnischen Vernichtungskriegs praktizierte. Mancher, wie der Rezensent, fuehlte sich angesichts des Hohen Lieds, das Handke auf das (ihm) =gastfreundliche=, arme und =friedliche= serbische Volk anstimmte - gegen das die gesamte =westliche Welt= in Handkes Augen einen Krieg fuehrte - an Duerrenmatts treffsichere Bemerkung zu Brecht erinnert, der =unerbittlich denkt, weil er unerbittlich an manches nicht denkt=. Handkes Unerbittlichkeit war sein =Sehen=.

Was haben nun aber Handkes jugoslawische Don-Quichoterien mit dem =grossen Sehnsuchtsbuch=, dem =Menschenbuch= zu tun, als das uns der Verlag nun =Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos= anpreist. Sehr viel; soviel, dass man schon blind sein muesste, um nicht zu sehen, dass fuer diese umfaengliche Roman-Phantasie von einer =groesseren Zeit= ganz gewiss die =kleinere= vom Zerfall und Untergang Jugoslawiens und der agrarisch-doerflichen Lebensweise Pate gestanden hat. Von der Korruption, dem Verbrauch und dem =Verlust der Bilder= durch die =Medien= bis zur Drohung sowohl mit der =internationalen Geldwirtschaft= als auch mit =fuersorglich= ueber letzte Enklaven Weltfluechtiger in weltabgewandten Gebirgsenklaven hinwegdonnernde Bombergeschwader ist im =Bildverlust= alles hoechst praesent, was in den =unter Traenen fragenden=, aufgeregt-wuetenden Reisebuechern-im-Kriege schon angesprochen worden war

Nur wird das alles =verschoben=, =uebertragen= oder vermystifiziert in ein angestrengt poetisches, ja eher poetisiertes Fantasy-Spanien, das jedoch leider nicht die mythische Erfindungsdichte von Swifts =Gulliver= oder gar die lapidare humoristische Durchschlagskraft Cervantesker Don Quichotereien besitzt.

Erst recht beschaeftigt Handke in seinem =Bildverlust= die Kardinalfrage seiner Poetik, was sie naemlich wider das falsche Sehen und vor allem =Kritisieren= und =Aufklaeren= von zugereisten =Berichterstattern= (also Journalisten) an welt(er)haltender Tiefensicht leistet. Schliesslich tritt der Autor, der =in der Mancha= seine einsame Schreibwerkstatt aufgeschlagen hat, auch noch mit Cervantes und seine namenlose Heldin mit dessen Ritter von der traurigen Gestalt in einen edlen literarischen Wettstreit. Der OEsterreicher ist jedoch grossherzig genug, dem Spanier den Lorbeer zu lassen.

=Der Bildverlust= ist Handkes ehrgeizigster Versuch, sowohl seine Eigenart der epischen Prosa poetologisch zu begruenden und zu rechtfertigen = als auch sie zu erretten. Denn in der allseits bedrohlichen =Zwischenzeit=, in der so Vieles auf Nimmerwiedersehn im Verschwinden begriffen ist, geht Handkes poetische Grundlage, die unwillkuerlich im traeumerischen Bewusstsein aufblitzenden (In)=Bilder= von Orten, die ihm =den Fortbestand der Welt= verbuergten, radikal zuende. Schon Cezanne hatte ja deshalb zur Eile gemahnt. Das dicke Buch, das mit seinen 759 Seiten, enger bedruckt als die =Niemandsbucht=, diese auch an Laenge uebertreffen duerfte, ist ohne Zweifel eine Bilanz des Schriftstellers Peter Handke = und zwar in jeder Hinsicht.

AEsthetisch hat Handke seine Erzaehlstrategien verfeinert, ja sogar ironisch erweitert und den schwerbluetigen Stoff bis zur Grenze des Humoristischen raffiniert. Indem der Roman als =Auftragsarbeit= angelegt ist - der =Autor= (unverkennbar Handke) soll die Reise seiner namenlosen Heldin zu ihm in eine Erzaehlung verwandeln, mit der sie verschmelzen, in der sie eingehen moechte = kann er fast durchgaengig selbstreflexiv Schreiben und Leben thematisieren, im Dialog von Auftraggeberin und Autor ueber Wortwahl, Sachverhalte oder Verschwiegenheiten beim Poetisieren der Welt vor den Leseraugen (ver)handeln. (An einer Stelle des Buchs lacht die =Auftraggeberin= derart heftig ueber ihre angebliche =Verpflichtung= des Autors, dass Handke offenbar signalisieren moechte, dass sie doch nur seine allegorisch vorgeschobene Ich-Instanz ist, was dem mit literarischen Tricks vertrauten Leser jedoch ohnehin schon schwante).

Eine andere methodische Auflockerung versucht der zwiefache Autor, indem er =feindliche= Stimmen und Texte, wie die des journalistischen Berichterstatters=, in den Textkorpus integriert, freilich als endlos salbadernde Monologe. Zu einer wirklichen epischen Ironie, die dem radikalen Bezweifeln der eigenen Position unkommentiert Raum gaebe, ist Handke jedoch nicht faehig. Der =feindliche= Kommentator der merkwuerdig sektiererischen Lebensgemeinschaften in der Sierra, wird einerseits als kindlich traumatisiert denunziert, andererseits entpuppt er sich, im Gipfelgespraech mit der Heldin, als euphorischer Konvertit, der schliesslich in der Gemeinschaft dieser Heiligen ihrer letzten Tage leben will.

Und fuer =episch= haelt Handke, der eine Abscheu vor =bloss aeusserlichen Abenteuern= hat, sein zweifellos (aber auch monoton) von ihm durchgehaltener rhythmischer Sprachduktus erzaehlerischer Ruhe und Zeitweile. =Episch= bemerkenswert & literaturfaehig haelt er nur, wenn fuer ihn und seine Figuren =AEusseres und Inneres so wirklich wie woertlich Hand in Hand gehen=. Nichts da von Doeblinschem =Plantschen in Fakten= oder dessen =Bewegung grosser Stoffmassen= durch den Epiker! Und schon gar nicht wird der an Karl May erinnernde Untertitel mit Abenteuer-Versprechen =Durch die Sierra de Gredos= eingeloest. Nur keine falschen Hoffnungen, liebe Leser!

Wie schon in der =Niemandsbucht=, zu der es hier mancherlei Verbindungen gibt, wird auch im =Bildverlust= ein kuenstliches mixtum compositum von Vergangenheit (Karl V.), Gegenwart und Zukunft imaginiert, das an den =ueber=- & =allzeitlichen= Moeblierungsmuell bloss avantgardistischer Theaterinszenierungen gemahnt, dem Autor aber historischen und seherischen Tiefen- & Hoehensinn zu erlauben scheint, in dem sich gut munkeln laesst.

Da Reisen = vor allem zu Fuss - der immer wiederkehrende Grundtopos Handkescher Welterfahrung und innerlicher Weltverwandlung ist, laesst er seine namenlose weltbekannte Bankerin & =Finanzweltmeisterin= von einer deutschen =Flusshafenstadt= zu einer erst Flug-, dann Bus- und zuletzt Fussmarschreise nach Valladolid und die suedwestlich von Madrid liegende Sierra de Gredos aufbrechen und am Ende (per Bus) im Mancha-Haus des Autors endlich zur Ruhe kommen, wo der gleichwie Cervantes sitzende Erzaehler seine =wendische= (warum wohl ? =slawische=) Don Quichoteska erwartet, damit sie ihm von ihrer maerchenhaften, gefaehrlichen Entfernung von ihrem falschen Leben im Geldstrom erzaehle, was uns dann beide als =Der Bildverlust= von Peter Handke auf 759 Seiten vorlegen.

Es ist die exemplarische Heiligenlegende einer =Suenderin=, ihrer schrittweisen Abkehr von der Welt der (Geld-)Macht und des Egoismus und ihrer Einkehr in die Erwartung =einer groesseren Zeit= der mitmenschlichen Teilhabe, der =wahren Liebe= und des mystischen Enthusiasmus´ fuer den Frieden in der kuenftigen Welt. Zwar geht ihr auf dem Tiefstpunkt ihrer existentiellen Verlassenheit in der Sierra de Gredos (zwei Tage liegt die Abgestuerzte & fast Verdurstende reglos im Farnkraut unter schlafenden Soldaten) - zwar geht ihr da ploetzlich Trost, Schutz und die Weltvertrauen stiftende Kraft der Bilder endgueltig verloren; nicht aber der Mut, behauptet sie, =bis zuletzt um ihr Leben zu kaempfen=, was immer das im Ungefaehren der Handkeschen Poeterei heissen oder im =wirklichen Leben= bedeuten mag. Denn dass sie erwaegt, eine =Weltbank der Bilder= zu gruenden = nachdem diese Seinsgewissheiten ja ihr wie allen andern laengst vergangen sind, soll wohl ein Handkescher Witz aus literarischem UEbermut sein = und eine der vielen erzaehlerischen Ungereimtheiten des die eigenen Regeln spottenden Buches.

An drei Stationen ihrer Reise durch das Hochgebirge = dem =Nuevo Bazar=, der Zeltstadt Pedrada und der hoch-tief gelegenen zeitenhobenen Enklave Hondareda = laesst Handke, pardon: =der Autor=, seine Passionara der Selbstfindung Weltverhaltensformen zwischen urbaner Moderne und doerflichem Archaismus erleben = mit einer ausfuehrlichen Penetranz und fruchtlosen Sophisterei, dass es zum Gaehnen ist. In dieser umstaendlich camouflierten Zeit-, Gesellschafts- und Wirtschaftskritik (bei der sowohl Daniel Cohn-Bendit einen Arschtritt als auch Joschka Fischer einen kurzen Auftritt zum Pissen erhaelt: humoristische Einsprengsel zum Feixen) erhebt Handke jedoch nicht rueckhaltlos seine Stimme fuer das =Gute Alte=, das er zwar mit Trauer, aber ebenso mit Notwendigkeit untergehen wie das von den epiphanischen =Bildern= einstmals gestiftete Welt-Vertrauen schwinden sieht. Jedoch ist Handke Goethische Weltfroemmigkeit offenbar nicht fremd (wie ja auch des =Meisters Wanderjahre= und des =Faust II= als Paten der Handkeschen Welt-Bilanz-Buchfuehrung diskret gedacht sein soll: sapienti sat); und wo einst Ernst Bloch noch eschatologisch das Zauberwort Utopie orgelte, da klingt bei Handke duennstimmig eine =Sehnsucht= nach Versoehnung den Menschen zu ihrem Wohlgefallen nach.

Da die reuige Heldin ihrer =Schuld= buchstaeblich laufend (naemlich in der Sierra) entgeht = der =Schuld=, bei einer frueheren Sierra-Kraxelei als Schwangere, das Kind im Leib verflucht und die Weltwirtschaftsbankerei angestrebt zu haben =, ist es dem harmoniesuechtigen Autor nur recht, wenn sie in seiner Obhut, ebenso die entlaufene Tochter, nach einem Telefonat, zuhause im Norden wieder eingetroffen weiss - wie auch ihr aus dem Irgendwo irgendwie herbeigeflogener Mann in der Mancha ihr in die Arme faellt.

Dabei sind doch beide als erzaehlerische Kontrast- & Neben-Motive im Roman mehr als nur stiefmuetterlich, naemlich interesselos behandelt worden. Ein wenig besser erging es dem allerdings auch nicht vom Autor (diesem wie jenem) erzaehlerisch integrierten Bruder & seiner Geschichte. Er hat sich, nach Verbuessung eine Gefaengnisstrafe wegen =Gewalt gegen Sachen=, als wuetender Feind des Menschengeschlechts= in ein Land durchgeschlagen, in dem er nun als Soldat seine Mordswut loswerden will. Als er jedoch sieht, wie eine Moerdergruppe, die auf eigene Rechnung im Krieg marodiert, einen unschuldig Badenden hinmaeht, ist er von seinem Hass urploetzlich geheilt. Es ist, als wolle uns der pauschale Serbensympathisant Peter Handke damit en passant & diskret mitteilen, dass auch ihm ein =Bildverlust= zugestossen ist und er mittlerweile von dem moerderischen Treiben der serbischen Arkan-Milizen gehoert habe. So steckt das Buch voller Merkwuerdigkeiten

Jedoch sein wortreich und verschlungen konstatierter =Bildverlust=, von dem er zuletzt behauptet, er habe sich =problemlos, fraglos und umweglos von alleine erzaehlt= (was angesichts der dickfluessig-stockenden Maeandrierung des Romans einer erpressten Versoehnung ziemlich nahe kommt), stellt Cervantes´ =Don Quichote= von den Fuessen wieder auf den Kopf. Wo Cervantes seinen Helden im Finale seines Weltromans aus dem Traum erwachen laesst, beginnt Handke erst so recht zu traeumen: von Versoehnungen und wunderlichen Errettungen und Wiederfindungen. Schlaefrig hat er seine Leser jedoch schon hinlaenglich zuvor gemacht.


Wolfram Schuette


Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M., 2002. 759 Seiten, 29.90 Euro.
ISBN: 3-51841-310-4

Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos
Roman.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002.
760 S., geb., EUR/D 29,90.
ISBN 3-518-41310-4.
Am besten man gewoehnt sich rasch daran, weil ansonsten tut man es vielleicht nie: Ein Handy ist kein Handy, sondern ein =Handtelefon=; ein Haengegleiter kein Haengegleiter, sondern ein =Flugmensch=. Auch die Hauptfigur des Buches ist der Gegenwart von Beginn an entrueckt. Und so waere es, um seinen Inhalt zu beschreiben, wahrscheinlich verfehlt, von so etwas Lapidarem wie der Sinnkrise einer Managerin oder gar einer =Aussteigerin= zu sprechen. Es ist schon so, wie Handke sagt: die Geschichte einer =Geldexpertin=, die mit ihrem uebernatuerlichen Gespuer nicht als eine Schuelerin von Lee Iacocca, sondern gleich vorneweg wie eine Inkarnation von Jakob Fugger erscheint.

Eines Tages verlaesst sie ihren Arbeitsplatz in einer noerdlich gelegenen europaeischen Finanzmetropole, hinter der wahrscheinlich etwas aehnlich Furchtbares wie Frankfurt steckt. Zu Fuss geht es zum Flughafen, durch Randgebiete, die an jene =Niemandsbucht= erinnern, in der sich Handke mit seinem vorletzten Roman aufhielt. Es ist dies eine Zwischenwelt, fuer die sich ansonsten kaum jemand interessiert, geschweige denn, dass jemand auf die Idee kaeme, durch dieses Nichts auch noch hindurchzuwandern. Die Geldexpertin aber passiert den Stadtrand und durchmisst dabei eine Strecke, in der alles eine Vorfreude ist: Die =nun bald-= und =noch nicht ganz=-Wendungen haeufen sich.

Schliesslich landet die Frau im spanischen Valladolid und macht sich von dort zu einem Fussmarsch auf, der sie ueber die titelgebende Sierra de Gredos hinweg in jenes Dorf fuehrt, in dem der Autor der Geschichte lebt. Wie es sich fuer einen durchorganisierten Menschen gehoert, hat sie mit dem Schreiber einen Vertrag geschlossen, der alle Details regelt. Er soll ihre Wanderung unter konsequenter Vermeidung von Reisefuehrerprosa nach Art einer Expedition erzaehlen. Als Voraussetzung dafuer muesse sowohl mit journalistischem =Storyeifer= (den Handke wie die Pest hasst) als auch mit =Realitaetsgeprotze= (siehe oben) Schluss sein. Statt dessen ist die Geschichte der Frau wie ein =inwendiges= Abenteuer zu erzaehlen und jedenfalls so, dass bei ihr ein andauerndes Gefuehl des =mich erzaehltwerden spueren= aufkommt.

Vom =was= des Erzaehlens ist der Akzent solcherart rasch auf sein =wie= gelenkt. An manchen Stellen schweift der fingierte Autor dann entgegen seinem Auftrag doch auch zur Vorgeschichte der Frau ab. Er berichtet von einem Bruder, der lange im Gefaengnis sass, und von einer verlorenen Tochter, der sie in stillen Momenten nachweint. Auch die Herkunft der Familie klaert sich. Sie stammt aus einem sorbischen Dorf in Ostdeutschland, gehoert aber innerhalb dieser slawischen Minderheit einer noch kleineren Gruppe an, naemlich der Nachkommenschaft eines arabischen Kaufmannes, den es vor Urzeiten in den Norden verschlagen hat und der wohl auch die besondere Affinitaet der Geldexpertin zu Spanien erklaert. Unzweifelhaft ist es eine Ursprungsgeschichte, die Handke erzaehlt. Der Gegenwart wird etwas Laengstvergangenes entlockt, allein fuer sich waere die Jetztzeit trostlos. Es gibt in ihr (und diese Klage ist bei Handke zur Freude aller Kulturpessimisten mehr oder weniger wortwoertlich nachzulesen) keine Liebe und kein Vertrauen und vor allem keine gute Nachbarschaft. Der Zustand der Welt ist so, wie er es in den letzten Buechern des Autors war: ein permanenter Vorkrieg, in dem der Krieg erst gar nicht mehr erklaert zu werden braucht.

Je schlimmer der Zustand der Welt, desto groesser die Herausforderung an das Erzaehlen. Bei Handke sieht diese andere, poetische Welt zunaechst recht idiotisch aus. Die Geldexpertin, die dem Mammon abgeschworen hat, durchwandert immer seltsamer werdende Orte und trifft dabei auf immer seltsamer werdende Menschen. Die Dramaturgie folgt, ohne in dieser Weise spektakulaer und mit dem dortigen Schreckensende behaftet zu sein, dem Muster von =Apocalypse Now=. Das =Herz der Finsternis= ist bei Handke dann doch zum Herzerwaermen: Die Heldin findet in einer Gebirgssenke ganz oben in der Sierra den allerseltsamsten, fuer sie aber heilsamen Stamm. Um die Leute zu beschreiben, hat der fingierte Autor seinerseits einen Hilfsschreiber engagiert. Dessen ethnographischer Bericht steht dem urspruenglich erteilten Schreibauftrag entgegen und bietet von den sogenannten Hondarederos zunaechst ein jaemmerliches Bild.

Die Leute, allesamt UEberlebende eines nicht naeher bezeichneten Unheils, haben der Zivilisation auf eine wirklich dummdreiste Weise abgeschworen. Objektive Laengen- und Zeitmasse sind ihnen unbekannt, statt dessen teilen sie die Welt in Wurf- und Koerperdistanzen sowie in eine lose Abfolge von Tagen. Ein =Eintagesvolk=, heisst es in dem Bericht, seien diese Muldenbewohner, eine =Robinsonrotte=, deren ausgepraegter Sinn fuer Haesslichkeit sich in jedem Detail bis hinab zu den Socken zeigt, von denen sie stets zwei verschiedene truegen. Kindisch seien die Umwege, die sie bei jeder Gelegenheit gingen. Selbst wenn sie sich nur ueber eine kurze Distanz hinweg einen Gegenstand zuwuerfen, haette dies in einem unnoetig grossen Bogen zu geschehen. Ganz so, als wollten sie staendig etwas von dem in die Luft zeichnen, was sie nicht mehr in sich truegen: naemlich jene unaufhaltsame Serie von Bildern, von der die moderne Welt ueberquillt.

Die Geldexpertin, die von der langen Reise Richtung Mancha (denn so wird das Zielgebiet tatsaechlich genannt) offenkundig fuer eine neue Art des Denkens disponiert ist, sieht die Dinge naturgemaess anders. Im beschriebenen Bildverlust erkennt sie die Chance, die Metaphern vom Wesen der Welt noch einmal in ihrer vollen Erkenntniskraft entfaltet zu sehen. Die Frau landet schliesslich in einer mit Farn ausgekleideten Grube und erleidet dort ihr finales Gluecksgefuehl. Die europaeische Literatur kennt ein Buch, das just den umgekehrten Prozess, naemlich die epochale Ausserkraftsetzung der Bild- und AEhnlichkeitsbeziehungen beschreibt. Es ist Miguel de Cervantes =Don Quijote=, ein Werk, das eben nicht das Ende des Rittertums, sondern die Ausserkraftsetzung imaginativer Erkenntnis zum Inhalt hat. Der Ritter von der traurigen Gestalt haelt bis zum Schluss an seinen Analogien fest, die jetzt aber nicht mehr zur Erklaerung der Welt, sondern bestenfalls noch fuer die Literatur taugen.

Wie eine lockere Schraube dreht Handke seine Heldin aus der Gegenwart heraus und in eine Gedankenwelt hinein, die zwar von gestern stammt, mit der es in Zukunft aber doch noch eine Bewandtnis haben soll. Mit seinem Buch legt der Autor einen neuen Don Quijote vor und er tut dies mit vollem Vorsatz. Gleich als Motto findet sich das Cervantes-Zitat: =Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten=. Und gegen Ende heisst es sinngemaess, dass die unternommene Beschreibung des Bildverlustes nicht nur unserer Zeit, sondern auch noch den kommenden Jahrhunderten genuegen muss.

Wo die Hybris so gross ist, macht sie schon fast wieder Spass. Weitgestreckte Ziele sind in der Literatur allemal spannender als jene Selbstbescheidungen, von denen es derzeit nun wirklich genuegend gibt. Wenn man gegen Windmuehlen kaempft, tut man es am besten gleich ordentlich. Peter Handke macht vor, wie es geht und welche Meisterschaft man in diesem selten geuebten Sport auch heute noch erringen kann.


Klaus Kastberger
23. Jaenner 2002



Peter Handke

Lucie im Wald mit den Dingsda
Mit 11 Skizzen des Autors.
Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1999.
91 S., geb.; DM 28.-. ISBN 3-51841-065-2.
Die Mutter ist wunderschoen, der Vater irgendwie ekelerregend. Er streift im Wald und im Garten umher und hat schmutzige Fingernaegel. Wenn einmal Gaeste kommen, uebersehen sie ihn mit Sicherheit, hockt er doch staendig am Boden und ist beinahe selbst schon zu Erde geworden. Ausserdem zittert der Mann staendig: am Morgen, zu Mittag und am Abend; im Sommer und im Winter; im Sitzen und im Stehen; beim Essen und beim Lesen, ja sogar beim Fernsehen schuettelt es ihn, so dass man dem Programm nicht mehr folgen kann.

Warum er denn andauernd zittert, will die kleine Lucie also von ihrem Vater wissen. Zwei Gruende gibt dieser daraufhin an. =Ich kann nicht umhin zu zittern=, so sagt er, =weil ich als Kind auf der Flucht war, von einem Land zum naechsten, ueber eine Grenze zur anderen - damals gab es noch Grenzen, aber diesen Ausdruck kannst du jetzt gluecklicherweise vergessen.= Der zweite Grund liegt im frueheren Familiennamen des Vaters, der in der UEbersetzung eben genau dies, naemlich Zitterer, bedeutet hat.

Heute, also zu jener Zeit, da Peter Handke sein Maerchen von der kleinen Lucie erzaehlt, haben die Woerter ganz offenkundig ihre Verbindlichkeit verloren. Die Namen sind austauschbar geworden, man legt sie ab wie ein paar Kleidungsstuecke, die aus der Mode gekommen sind. So ist dann folgerichtig auch Lucie gar nicht der wirkliche Namen jenes Maedchens, das in dem Text Lucie genannt wird. Die Kleine wollte nicht so heissen, wie sie hiess; sie wollte lieber Theodora, Aurora, Renata, Jelena oder eben auch Lucie heissen, und so heisst sie dann auch in dem Maerchen, das Handke von ihr und wohl auch fuer sie erzaehlt.

In gewisser Weise legt das Buch =Lucie im Wald mit den Dingsda= tatsaechlich eine solche holzhammermaessig-biographistische Aufloesung nahe. Hinter der schoenen Mutter koennte man mit Fug und Recht die Lebensgefaehrtin Handkes, die Schauspielern Sophie Semin, vermuten, obwohl man nicht annehmen wird, dass sie jemals der im Maerchen genannten Profession (dazu spaeter) nachgegangen ist. Hinter der kleinen Lucie haette sich folgerichtig deren und Peter Handkes gemeinsame Tochter versteckt; der ekelige Vater waere, setzte man die entsprechende Brille auf, der Autor selbst.

Wenn man schon mit solchen Schluesseln operiert, sollte man gleich auch den entsprechenden Dietrich fuer das Wort =Dingsda= basteln, welches uebrigens anders als im Titel im Text selbst immer nur als =Dingsbums= aufscheint. Diese Unentschiedenheit mag den wahren Textphilister stoeren, fuer die Aufloesung des Begriffes ist sie aber unerheblich: Das Dings-irgendwas steht in jedem Fall im Wald herum, und manche suchen es. Von Lucie wird es =Waldbodenauswuchs=, =Waldkram=, =Mulm= oder =Waldwicht= genannt; der Vater sagt =Sankt-Georgs-Ritterling=, =Petuschka=, =Apfeltaeubling=, Gallenroehrling= oder =Krause Glucke=. Kurzum: Es geht in dem Maerchen, wenn es denn ein Maerchen ist, um Pilze, und gegen Ende stellt sich sogar noch die kleine Lucie als die bessere Sammlerin heraus, was bei der Sammeltechnik des Vaters auch gar kein Wunder ist.

Ist es also ein Kinderbuch, das Handke vorlegt, nur weil er das Buch urspruenglich fuer seine Tochter geschrieben hat? Ich meine, man kann den Text schwerlich auf seine Ausgangssituation reduzieren. In Peter Handke vermag man eben nach den vieldiskutierten Serbien-Essays nur schwerlich jenen unschuldig Erzaehlenden zu sehen, den man sich (wahrscheinlich zu vollem Unrecht) gerne als den idealtypischen Autor von Kinderbuechern vorstellt. =Lucie im Wald mit den Dingsda= beweist eine Art von Gegenteil: Dieses Buch ist fuer ein Kind und damit fuer sehr viele Erwachsene geschrieben. Ein Kinderbuch also, das die Welt der Erwachsenen nicht vergessen hat.

So ist dann in dem Maerchen von Lucie auch jenes Thema praesent, mit dem sich Handke in den letzten Jahren wirklich intensiv beschaeftigt hat, naemlich das Thema des Krieges und des Zusammenbruches von Ordnungen. Im Verlaufe des Textes macht sich hinter den bruechigen Idyllen des Waldes und des Pilzesuchens zusehends eine zweite Ebene bemerkbar. Es setzt sich eine Sichtweise durch, die die Mutter nicht mehr alleine als normale Polizistin (die sie zu Beginn war), sondern als =Chefpolizistin= betrachtet; als solche hat die schoene Frau den Ausnahmezustand durchzustehen. Der Vater hingegen wird aus einem undurchsichtigen Grund ins Gefaengnis geworfen; Lucie faehrt in der Stadt und loest ihn beim =Koenig= mit einem Korb voll Dingsbums aus. Die Pilze entfalten im Maerchen eine Wirkung, die man sich fuer die Erwachsenenwelt wuenschen wuerde.

Dorthin, naemlich zu den Erwachsenen, kehrt Handke ueber den Umweg seiner Tochter mit Lucie zurueck. Von den Pilzen selbst bleibt solcherart nicht nur ein klitzekleiner utopistischer, sondern auch ein verwehter halluzinogener Wert: =Lucy in the Sky with Diamonds= hatten einstmals die Beatles gesungen; meine Klassenkameraden im Gymnasium erklaerten mir spaeter, dass dies (den Anfangsbuchstaben der Substantive entsprechend) eine Hymne auf LSD gewesen sei. In Peter Handkes Titelparaphrase geht diese kleine Spielerei nicht mehr auf. Umso dringlicher waere denen, die an einer anderen Welt interessiert sind, diese Liebeserklaerung eines Vaters an sein Kind zu empfehlen.

Klaus Kastberger
11. November 1999



Peter Handke
In einer dunklen Nacht
ging ich aus meinem stillen Haus.
Roman.
Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1997.
ca. 320 S., geb.; DM 48.-. ISBN 3-518-40880-1.

Ein Mann, der Apotheker aus Taxham, erzaehlt einem anderen Mann, dem Aufschreiber, seine Geschichte, und wuesste man nicht gleich, von wem sie stammt, man brauchte nicht erst lang zu ueberlegen. Unverkennbar ist die Handschrift Peter Handkes, unverkennbar jene Bilder von einer Welt, in der Quersteppeinradfahrer oder ein Hausierer - kein geringerer als jener aus Peter Handkes gleichnamigem Roman - urploetzlich in der Steppe auftauchen, wohin sich jener Apotheker und Leser von Ritterromanen aufgemacht hat, um seine Abenteuer zu bestehen.

Alles beginnt mit einem Schlag auf den Kopf, der den Apotheker auf seinem abendlichen Weg in sein Stammlokal trifft und ihn zum Verstummen bringt.

Ungeachtet seines Sprachverlusts macht er beim Abendessen die Bekanntschaft eines Ex-Schi-Champions und eines ehemaligen Erfolgsschriftstellers und bricht mit den beiden zu einer Fahrt in den Sueden auf. Ziel ist ein Fest, wo der Apotheker - nunmehr zum Fahrer geworden - auch seinen verstossenen Sohn wiedersieht.

Quasi als Dea ex machina tritt jene Frau auf, bei der die Reisenden in der ersten Nacht ihrer Fahrt Unterkunft gefunden haben. Sie fuehrt den Apotheker aus der Steppe und damit auch aus seiner Geschichte heraus.

Nun findet er auch seine Sprache wieder und kann seine Geschichte dem Aufschreiber diktieren. Er wird damit zum Erzaehler und Leser. Als solcher bleibt er auch zurueck, denn endlich kann er seine Lektuere von Ivain oder der Loewenritter fortsetzen.

Seinen Ausgangspunkt indes nimmt der Roman in =Mein Jahr in der Niemandsbucht= (1994), war doch darin bereits eine Apothekergeschichte angekuendigt. Von da an treibt es Leser und Protagonisten noch weiter zurueck in die Handkesche Literaturgeschichte bis zu den Anfaengen mit dem =Hausierer= (1967).

=In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus= wird damit zu einem Streifzug durch und in das Werk des Autors, das sich immer wieder der Frage nach dem Eigentlichen des Erzaehlens stellt.

Susanne Zobl
13. August 1997




>Tagesspiegel NR. 15957 VOM 20.04.1997 SEITE 025 Kultur Fuer seinen neuen Prosaband bedient sich Peter Handke beim mittelalterlichen Abenteuerroman - und scheitert an der Balance zwischen Aktion und Symbol. Die Gnade der Pilze VON TILMAN KRAUSE Nein, so weit wie Flaubert ist Handke auch in seinen ausschweifendsten Autorphantasien nicht gegangen: Anders als den bewunderten franzoesischen Kollegen hat es ihn nie gereizt, ein Buch ueber nichts zu schreiben. Aber vom Erzaehlen hat Handke, der nicht umsonst einem seiner Buecher den Titel Die Abwesenheit gab, sehr sparsame Vorstellungen. Und dies, seit er ueber das Schreiben nachdenkt. Mein Ideal waren seit je der sanfte Nachdruck und die beguetigende Abfolge einer Erzaehlung, heisst es beispielsweise 1980 in der Lehre der Sainte-Victoire. Wer daraus schloss, das Atmosphaerische sei dem Autor wichtiger als das Stoffliche, wurde bald eines Besseren, will sagen: Spezifischeren belehrt. Nicht Geschichten aus Saetzen und Bildern faszinieren den Dichter, wie man einem seiner programmatischen Aufsaetze zur Literatur aus den neunziger Jahren entnehmen kann, sondern bewegtes Fliessen von Worten, ohne besondere Begebenheit. Der feinrhythmisierte Singsang, die einlullende Abfolge von Ding- und Empfindungsschilderungen in ihrer moeglichst genau beschriebenen materiellen Beschaffenheit, das sind die Erzaehlgegenstaende, auf die sich einstellen muss, wer einen Band mit Prosa von Handke zur Hand nimmt. Auch in seinem neuesten Buch, das, entgegen der Verlagsankuendigung, kein Roman ist, sondern ein Text mit den Zuegen eines Maerchens, wird der Liebhaber rasant erzaehlter Begebenheiten kaum auf seine Kosten kommen. Handke orientiert sich weniger an den aktionsreich funkelnden Bilderboegen der Volksmaerchen, wie wir sie etwa aus der UEberlieferung durch die Brueder Grimm kennen. Als Vorbild mag ihm vielmehr das Kunstmaerchen der deutschen Romantik vorgeschwebt haben mit seinem motivisch feinveraestelten Auskleiden der Seelengemaecher von empfindsamen Menschen, die versuchen, Ich und Welt in Einklang zu bringen. Auch Goethe wird ihn inspiriert haben, der in seinem symbolischen Maerchen den Erzaehler sagen laesst: Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Maerchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen. Nichts und alles: also das Zusammenfallen der Gegensaetze als Metapher fuer das Umfassen, das Erfassen des Welt-Ganzen - das will hoch hinaus. Und schlaegt doch sehr schnell in Beliebigkeit um. Auch Handke hat hohe Ansprueche. Fast am Ende des magisch verraetselten Marsches, der die Handlung des Buches darstellt, erfaehrt der Leser vom Helden, der von namenlosem Begehren getriebenen wird, das Erzaehlen solle auch hier zum Aufschauen bringen, zum Eingreifen ins (...) blinde Weltgeschehen, in die Flucht der Erscheinungen, in das Gerede, (...) und vieles andere mehr. Und vieles andere mehr! Da liegt nun leider der Hase im Pfeffer. Selten war eine nachlaessige Formulierung so verraeterisch wie dieses und vieles andere mehr. Denn das angeblich blinde Weltgeschehen bleibt bei Handke unbenannt, das Gerede wird nicht gestaltet, das Eingreifen - in wessen Namen, womit? -, das beschworene Aufschauen - wozu, zu wem? - haben kein Ziel. Noch nirgends ist die programmatische Objektlosigkeit des Handkeschen Schreibens, ist die Abloesung von Erzaehlung durch die Geste des Erzaehlens, die Ersetzung von Substanz durch Fluidum so klar als Scheitern zu erkennen gewesen wie in diesem Werk mit dem schauerlich schoenen Titel In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus - ein Scheitern - Fairness gebietet, dies hervorzuheben -, das erkennbar wird anhand eines Winkes, den der Autor selber gibt. Handke benennt naemlich das erzaehlerische Modell, nach dem er sein Material organisiert; es ist das mittelalterliche Versepos mit seinen Aventiuren, seinen gefahrvollen Stationen der Lebensbewaehrung, die junge Ritter und Fahrensmaennern, wenn sie durchkommen, am Ende ihren Platz in der Gesellschaft finden lassen, eben jenen Einklang von Innen und Aussen gewaehrend, den die zerrissenen Helden in den Kunstmaerchen der Romantik spaeter meist nicht mehr herstellen koennen. Auch der Apotheker, Hauptfigur in Handkes Mittelaltermaerchen und also ein Umsorger und Helfender, der das grosse Ganze, die Welt und was sie zusammenhaelt, im Blick hat und in ihr Gutes zu tun gewillt ist, auch dieser Apotheker in seiner symbolischen Berufstaetigkeit, die einer Berufung gleichkommen soll, unternimmt eine Weltfahrt. Nur: Handke redet von Gefahren und Kaempfen, die er zu bestehen habe, aber sie ereignen sich nicht. Er verheisst Abenteuer, aber es gilt keine zu bestehen. Statt dessen heisst es matt: Was zaehlte, war, dort draussen im Nachtwind zu sein, (...) und dann weiterzusehen. Es gibt auch eine Reiseroute. Aber dann stellt sich heraus, dass die erste Station, das Haus am Wasserscheidebrunnen dem Reisenden und seinen zwei Begleitern gar keine Ent-Scheidung abverlangt. Schliesslich gelangen sie in eine Stadt namens Santa Fe, offensichtlich in Spanien, die aber in Anlage und Aussehen dem heimischen Taxham bei Salzburg auffallend aehnelt, sodass der Erzaehler fragt: Waren sie ueberhaupt von der Stadt Salzburg weggefahren?. Es kommen auch sprechende Raben vor, die Aufgaben stellen sowie eine raetselhafte schoene Frau, die die Hauptaufgabe - Aussoehnung des Apothekers mit dem von ihm verstossenen Sohn - anmahnt. Aber das bleibt unerledigt, wird sogar fuer unwesentlich erklaert, und zwischen dem Apotheker und der Fee ergibt sich die erforderliche Liebesbeziehung so beilaeufig, bleibt fuer die Geschichte so marginal, dass das Erzaehlgeruest, statt zu tragen, nur klappert. Mit anderen Worten: Handke bleibt das Gleichgewicht von handfester Aktion und einer ueber sie hinausweisenden Symbolik, die in dem von ihm zitierten Yvain des Hartmann von Aue nun einmal unaufloeslich zusammengehoeren, ja die Essenz dieser epischen Form ausmachen, schuldig - und verfehlt damit sein Erzaehlmodell. Dabei beginnt alles so verheissungsvoll. Wie Balzac und die grossen realistischen Erzaehler steigt Handke in seine Geschichte ein, zeigt das Umfeld, erst weit, dann enger kreisend, lokalisiert das Personal und schraubt sich langsam in die Ausgangssituation eines geistig-seelisch im Aufbruch begriffenen Menschen hinein. Dabei haelt der Autor - beispielsweise in den sprechenden Strassenbenennungen nach Flugpionieren oder mit der Bezeichnung des fuer den Ort Taxham zentralen Platzes als Apotheke zum Adler - eine Fuelle von Verweisen dafuer bereit, dass hier jemand ins Offene strebt. Auch spielt die handketypische Poetisierung einer haesslichen Nachkriegsgruendung wie Taxham in ihrer Lage am Kreuzungspunkt zwischen Flug-, Eisenbahn- und Autostrassenlinien auf subtile Weise mit dem Topos der Auserwaehltheit, denn Taxham wird immer wieder als Enklave und als unzugaenglich charakterisiert - unzugaenglich aber, griechisch abatos, heisst auch heilig. Auch in den urbanen Wuesteneien von heute also kann sich jemand aufschwingen zur UEberwindung seiner selbst und der Welt, wenn er das entsprechende Bewusstsein hat. Und ueber dieses Bewusstsein verfuegt der Apotheker. Seine Einsamkeit, die an ein Eremitendasein erinnert, seine Verbundenheit mit der Natur, seine innere Bereitschaft fuer ein herrliches, vielleicht auch schreckliches Ereignis, nicht zuletzt seine Hinwendung zur Literatur als Lebensmittel, wie sie Handke selbst als erklaerter Bewohner des Elfenbeinturms verkoerpert - das alles sind nuanciert und unaufdringlich gestaltete Begebenheiten, die den Helden disponieren zu jenem grossen Aufbruch in die abenteuerliche Fremde, die, esoterischem Wissen zufolge, immer auf die Begegnung des Individuums mit sich selbst hinauslaeuft. Bei diesem ersten Teil, der gelungenen Gestaltung einer Erweckungserwartung, haette es der Autor belassen sollen. Aber er wollte mehr. Er wollte auch - Achtung, Risiko - den Weg in die Erweckung und dann - oberste Alarmstufe - das Erwecktsein selbst. Und so schickt er denn seinen Helden in die Wueste, genauer: in die Steppe. Da ihm aber keine Konflikte einfallen, konfrontiert er den Apotheker mit Tieren, Pflanzen und ein paar Gestalten, die an das szenische Ballett Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten erinnern. Auch sprachlich verkuemmernd, schlaegt Handke nun ueber quaelend lange Strecken die Botanisiertrommel, bewaehrt sich als Bewisperer von Nuessen und Graesern, wie Peter Ruehmkorf das einmal genannt hat. Auch Lavendelskelette und leere Mohnkapseln haben es ihm angetan: Ja, ich spuerte eine Art Zaertlichkeit fuer sie. Dasselbe gilt fuer ueberlange Stengel (gegen die ja weiss Gott nichts zu sagen ist), vor allem aber fuer Pilze. Das letzte gemeinsame Gespraechsthema der Menschheit, das werden die verschiedenen Pilzsorten sein, raunt sein Apotheker, sichtlich gehetzt von den Furien des Sinnenschwundes. Pilze seien das letzte, wo jeder miteinstimmen wird, selbst unter Grundfremden, aufhorchend, freundschaftlich. Aufhorchend? Nein, bei dieser Utopie von der Erleuchtung der Welt durch die Gnade der Pilze winken wir ab, ganz freundschaftlich uebrigens, denn Handkes Fragen sind auch die unseren. Aber seine Antworten zerfallen uns im Munde - wie Pilze, aber wie die, die in Hofmannsthals Chandos-Brief vorkommen und die bekanntlich modrig sind. Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Roman. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1997. 316 Seiten. 48 DM. PETER HANDKE Foto: Archiv/Peter Peitsch Autor: Krause, Tilman Deskriptor: Buchrezension Datenbank TSP Dokumentennummer: 049720102 Dokument 2 von 5



DIE ZEIT Nr. 50 vom 07.12.2000 Seite 71 Literatur Die Macht der Dauer Was bei Suhrkamp bleibt Auf die Dauer ist kein Verlaae:, schrieb Peter Handke in seinem Gedicht an die Dauer, Nicht einmal der Fromme, / der taeglich zur Messe geht, / nicht einmal der Geduldige, der Kuenstler des Wartens, / kann ihrer ein Leben lang sicher sein. / Zu wissen glaube ich, / daae sie moeglich nur wird, / wenn es gelingt, / bei meiner Sache zu bleiben. Die Dauer, die der Dichter ersehnt, ist heutzutage ein rares Gut. Das Prinzip des beschleunigten Wandels und Wechsels dringt bis in die fernsten Winkel unseres Lebens und belegt alles, was von Dauer scheint, mit dem Verdacht des Unzeitgemaeaeen, Verstaubten. Der Markt laesst keinen Stein auf dem andern, keinen Mann an seinem Platz. Geduld ist die Stieftochter der Raffgier. Jede Beschleunigung vergroeaeert das Gewicht des Bleibenden. Kuerzlich konnte man den Verleger Siegfried Unseld im Gespraech mit Guenter Gaus bewundern. Was er sagte, war nicht neu. Es bekam Bedeutung dadurch, dass er es so oft gesagt hat: Der Autor steht ueber dem Verleger, und dessen wichtigste Tugenden sind Treue und Geduld. Damit hat Unseld den Suhrkamp Verlag groae gemacht. Jetzt hat er sich von Christoph Buchwald getrennt. Buchwald war nach dem Sohn Joachim, nach Gottfried Honnefelder und Thedel von Wallmoden der vierte Mann, der den Verlag leiten und womoeglich uebernehmen sollte. Was der groaee und naive Unseld nicht zu wissen schien: Es kann, so lange der Patriarch lebt, keiner ihn ersetzen. Und wenn er nicht mehr lebt, wird es eine Siegfried Unseld-Stiftung geben, geleitet von seiner Frau Ulla Berkicz, gesichert durch Unselds Privatvermoegen und die Gesellschafteranteile. Bis dahin wird ER es machen, zusammen mit Guenter Berg, Rainer Weiss und Hans-Joachim Simm. Die drei wissen, was sie an dem Alten haben. Alles bleibt, wie es war. Unseld, dieses Monument der Dauer, ist auch deshalb groae, weil sich der Literaturbetrieb um ihn herum immer schneller dreht. Dass einer, der mit Johnson und Koeppen, mit Brecht und Joyce befreundet war, immer noch da ist und nicht laengst schon aufgekauft wurde, das allein schon laesst ihn herausragen aus dem Strom des Kommens und Gehens in deutschen Verlagen. Ihm gelang es, bei seiner Sache zu bleiben. Aber nicht allein ihm. Denn man vergisst allzu leicht, wie viele Verlage es noch gibt, die von Verlegerpersoenlichkeiten gegruendet und geleitet werden, manchmal seit Generationen. C. H. Beck etwa (nunmehr 237 Jahre alt) oder Vittorio Klostermann oder Felix Meiner. Oder Klaus Wagenbach oder Antje Kunstmann. Sie sind Kuenstler des Wartens, bleibend bei ihrer Sache, auch wenn auf die Dauer kein Verlass ist. Autor(en): Ulrich Greiner Datenbank ZEIT Dokumentnummer: 40

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DIE ZEIT vom 14.10.1999 Seite 9 Nr. 42 LITERATURBEILAGE / Literatur Ein Schiff faehrt bergauf Peter Handke schreibt eine Wald-, Wiesen-, Groaestadt-, Kriminal-, vor allem aber Liebesgeschichte und entpuppt sich als zaertlicher Papa Gleich mit dem ersten Satz dieser Geschichte entzieht uns der Erzaehler jede Sicherheit. Peter Handke nennt sein Buch zwar Lucie im Wald mit den Dingsda, stiehlt uns die Titelheldin aber schon mit den ersten Worten, auch wenn wir sie als Lucie weiterhin kennen lernen: Lucie hieae in Wirklichkeit anders. Wer den ersten Satz dieser Geschichte genannten Erzaehlung nicht ernst nimmt, ist bald verloren. Was erzaehlt uns Handke denn da? In Wirklichkeit soll das Kind mit dem Licht-Namen sieben Jahre alt sein und braune Haare haben. In der schoeneren Wirklichkeit dieser aus dem Kopf eines Kindes getraeumten Fabel ist es zehn Jahre alt und schwarzhaarig. Ja, was nun? Anders ist das Zauberwort dieser Geschichte. Den anderen, den fremden Blick auf die Wirklichkeit hat Handke seit den ersten Buechern fuer seine Dichtung produktiv gemacht. Jetzt ueberfaellt uns das unscheinbare Wort an allen bedeutsamen Stellen der kleinen Wald-, Wiesen-, Groaestadt-, Kriminal-, vor allem aber Liebesgeschichte. Lucies Mutter, die das Haus in Ordnung haelt und in der Fantasie des Kindes zur obersten Polizei-Direktorin, ja zur Verbrechensgelehrten erblueht, traellert bei der Hausarbeit gern vor sich hin, kraeht aber immer stockfalsch. Als der Vater, natuerlich zu Unrecht, verhaftet wird (Kinder leben mit dieser Angst, wenn der Schriftsteller- oder was auch immer -Vater einem Beruf nachgeht, der auf dem Schulhof nicht mit einem Wort zu erklaeren ist) - als der Vater im Gefaengnis sitzt, hoert Lucie den Singsang mit anderen Ohren: Das leichte Falschsingen war das schoenste Singen ... Und wie schoen die Mutter war - anders schoen. AEhnliches Wunder, als Lucie den Vater aus dem Gefaengnis befreit. Sie kommt nicht mit Flammenschwert oder Himmlischen Heerscharen, sondern mit dem Schwaechsten, Verletzlichsten, was die Natur bietet - ja, mit den Dingsda, den Waldwichteln, der Waldherrlichkeit, den Waeldersattsamkeiten oder Waldbodenauswuechsen. Lieber Leser, wir sind in einem Maerchen, deshalb darf ich den Namen, den Sie laengst erraten haben, (noch) nicht nennen. Wie heiaet es im Lohengrin-Zaubermaerchen von Richard Wagner? Nie sollst du mich befragen. Wenn das Wort ausgesprochen wird, erlischt der Zauber - auch dieser Geschichte. Wenn man sich auf die andere Wirklichkeit einlaesst, auf die verwirrende Traum-Gleichzeitigkeit von Schein und Sein, wird Handkes Geschichte ein kleines Wunder hintersinnigen Erzaehlens. Hier stimmt nichts mehr - ist aber alles, um Lucie zu zitieren, goldrichtig. Jezt loesen sich scheinbar logische Probleme kinderleicht. Lucie kann von ihrem Haus am Waldrand einer Vorstadt ueber den Huegeln von Paris nicht nur auf die Hauptstadt tief unten in der Fluaeebene schauen, sondern gleich bis zum Meeresufer. Nicht nur die Grenzen des Raums verschwimmen einem in Buecher- und Traumwelten heimischen Maedchen (Las fuer ihr Leben gern Buecher), auch die Zeit geraet aus den Fugen: Unversehens steht die Mutter, gerade noch Kilometer entfernt, im Gefaengnis. Und waehrend dort, wer weiae, ein Spaetherbst- oder Fruehlingssausen zu hoeren ist, wirkte die Mutter am stummsten. Zugleich sang sie, sang und sang. Finden Sie die Wortwiederholung (sang, sang und sang) ueberfluessig? Die rituelle Dreier-Formel, die das ganze Buch gliedert, gehoert zum Maerchen (Du muaet es dreimal sagen) wie die drei Blutstropfen im Schnee, die Parzival in Not brachten. In der ungewoehnlich spielerischen Leichtigkeit, mit der ein eher als ernst eingeschaetzter Erzaehler hier seine Maskenspiele treibt, macht er sich ueber eines seiner Hausgesetze selber lustig: Manche schauten zweimal und auch noch ein drittes Mal. Dies ist das ueberraschend Frische des kleinen Prosa-Textes: Der aelter werdende Handke hat Lockerheit des Erzaehlens gewonnen. Leicht, verspielt, durchaus mit ernstem Humor, dabei zwinkernd voll (Selbst-)Ironie, inszeniert er eine doppelt, dreifach verspielte Geschichte. Eine zarte, diskret gebrochene Liebeserklaerung an die junge Tochter (von der wir wissen duerfen, dass sie Lacadie heisst), an die Mutter des gemeinsamen Kindes, die Schauspielerin Sophie Semin (aufgetreten im Sommer in der Urauffuehrung von Handkes Stueck Die Fahrt im Einbaum am Burgtheater). Muss man alles nicht wissen, um die nach Handkes Serbien-Kreuzzuegen und ueberhaupt in der Literatur deutscher Sprache in diesem Jahr fremd wirkende, leichte Geschichte zu verstehen. Das ist nicht bloae ein literarischer Trick, mit Maerchensplittern eine Geschichte auf eine Rutschbahn zu zwingen, in der zwischen Alltag und Traum oft kaum noch zu unterscheiden ist. Ist Lucies Vater nicht ein noch immer zitternder Fluechtling, der sich mit seinesgleichen trifft? Und gibt es die Lucie verwirrende Hoehle hinter der Hoehle nicht auch fuer ihre und alle Eltern, die sich zwischen Globalisierungs-Versprechen, Renten-Reformen und Steuer-Modellen nur noch vera...lbert vorkommen? Als Kinderbuch ist eine Parabel-Geschichte nicht abzutun, die John Lennons Beatles-Song Lucy in the Sky with Diamonds (1967) bewusst aufgreift, auch eine Zeile von Lennon als Motto aufruft. Hier erzaehlen, manchmal durchaus verwirrend, immer lustvoll den Leser anstupsend, zwei Menschen ganz verschiedener Lebensjahre und Erfahrungen. Einer der Reize des Buches. Lucie darf stoehnen ueber den Vater, der wenn er, gottlob selten, den Mund auftut, sich als vollkommen unfaehig erweist, in kurzen, einfachen, jedermann, auch einem Kind, verstaendlichen Saetzen zu sprechen. Und der Vater? Ein vom Kind als Gaertner geadelter Waldgaenger und Pilzsucher, dem sie ausweicht, wenn er sie von der Schule abholt, nimmt mit Freude wahr, dass die Tochter - gegen ihren Willen - mit dem schmuddeligen Papa nicht gesehen werden will, sich erst einmal versteckt, dann aber zu ihm eilt mit den schoensten Worten, die der Verliebte hoeren mag: Vater - ich komme! Natuerlich spielt der Erzaehler dieses locker, doch souveraen komponierten Buches auch mit der Form einer aus zwei Perspektiven anvisierten Geschichte. Der liebende Papa darf sich nicht nur die lang-langen Saetze leisten, die er, sich selber persiflierend, ankuendigt (Vorsicht, Langsatz!), sondern er darf sich auch ueber die Irrtumsbetrachtung des antiken Philosophen Pythagoras auslassen. Der ungeduldigen Tochter bleiben dagegen vom Vater liebevoll genau beobachtete Sprech-Eigenschaften wie ein genuscheltes usw., mit dem der Redefluss von Erziehungsberechtigten abgestellt wird. Und so taumelt, etwa in der Mitte, die Geschichte in ihre Erzaehl-Krise: Und wann kommt nun endlich die Geschichte? Kleinlaut sagt der vaeterliche Erzaehler: Auch das Bisherige war schon die Geschichte. Es war seine Geschichte: eine Liebeserklaerung an Kind (und Frau), wie man sie so zaertlich verschwiegen in unseren aufs Deftige versessenen Jahren selten findet. Handke, ein verliebter Vater, der auch seiner ersten Tochter, mit der Kindergeschichte vor achtzehn Jahren, einen Liebesbrief in Buch-Form geschrieben hat, begleitet den neuen Band mit elf Skizzen, zaertlichen Kritzeleien und Collagen, vom Pilzgeflecht am Anfang bis zu der Zeichnung eines im Sessel, hinter einem Buch versinkenden Kindes. Daneben der Schlusssatz dieser in sich verschlungenen, vielfach gebrochenen Erzaehlung: Und im folgenden Sommer saae Lucie auf einer Wald-Lichtung im Gras und las diese ihre Geschichte. Ein Liebesmaerchen. Da ist alles moeglich. Da ist das Dunkel klar, leuchtet die Wintermorgensonne wie die Herbstabendsonne, bluehen im Tiefschnee die schoensten Dingsda, also Pilze, und sitzen die gluecklich wieder vereinten Vater/Mutter/Tochter am schoenen Ende in einem Boot, das fuhr sowohl zu Wasser wie auch zu Land. Es fuhr sogar bergauf. Peter Handke: Lucie im Wald mit den Dingsda Eine Geschichte, mit elf Skizzen des Autors Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999 92 S., 28,- DM Autor(en): Michaelis, Rolf Bildunterschrift: Peter Handke AV Aufnahme: Foto: Isolde Ohlbaum Datenbank ZEIT Dokumentnummer: 29223

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DIE ZEIT vom 20.02.1998 Seite 47 Nr. 09 Literatur Tote Gesellschaft, lebendige Steine Am Felsfenster morgens entdeckt Peter Handke die Urgeschichte der Woerter So sei es. Der biblische Satz war unerhoert, teilte die Gemeinde und spaltete die Kritik. Mit ihm war das Urteil gesprochen: daae nie wieder ein Urteil ergehen soll. Der Satz, mit dem eine Geschichte endet und viele Geschichten beginnen, steht in Peter Handkes Roman Langsame Heimkehr. Er ist das Echo auf einen Ausruf, den Schriftsteller einer Figur gewoehnlich nur in den Mund legen, um sie zum Narren zu halten. Zum ersten Mal sah ich soeben mein Jahrhundert im Tageslicht, offen zu den anderen Jahrhunderten, und ich war einverstanden, jetzt zu leben. Doch es war keine Figur, es war die Stimme des Meisters. Nach den Jahren der Kaspereien und des Sprachzweifels war er zum Prediger geworden und verkuendete eine Lehre, die mit dem Geist der Kritik fuer immer gebrochen hatte. Kunst ging nach Kunst, nach nichts sonst. So sei es. Nach dem Gewicht der Welt, der Geschichte des Bleistifts und den Phantasien der Wiederholung uebergibt Peter Handke den Lesern nun sein viertes Journal: Fuenfhundert Seiten Einsamkeit, Saetze und Sentenzen aus den Salzburger Jahren zwischen 1982 und 1987, dazwischen hochgemut demuetige Exerzitien, mit denen er sich auf sein Werk einstimmt, vor allem auf Die Wiederholung und den Nachmittag eines Schriftstellers. Die wunderbaren Versuche erscheinen am Himmel, und der groaee Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht wird Ahnung und Gegenwart. Immer wieder bittet er Spinoza, Goethe, Emmanuel Bove und Rene Char vors Weltgericht der Literatur, und siehe da, sie sprechen wie Handke. Am Felsfenster morgens blickt der Autor, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, auf das Stilleben des Daseins. Er sieht den Tau auf dem Fahrradsattel und die Eichhoernchenspuren auf unbeschriebenen Briefumschlaegen. Er sieht zwei Maedchen auf dem Fahrrad. Er sieht eine leere NIVEA-Dose. Er sieht das Aufspringen des Hasen vor dem Wanderer. Er sieht, wie eine Frau auf den Balkon des Neubaus tritt, der noch kein Gelaender hat. Er sieht im Abendbus ein Maedchen mit einem Oleanderstrauch, der schwankte. Es ist das Sein. Das Sein und das Leben, die Welt und die Zeit, das sind die groaeen Worte, die Handke ausbuchstabiert, waehrend sein Auge auf Menschen ruht, die ihre Freude und ihr Leid nicht einmal mehr spueren. Nur der Fremde erkennt Entfremdung er weiae noch vom Mangel des gelebten Lebens, und nur er hat sich den Sinn bewahrt fuer die Wunder im Profanen. Die Kellnerin ging in der Sturmnacht mit einem Tablett, auf dem Apfelkuchen lagen, vom Hauptgasthaus zum Nebengebaeude, wo die Kegelbahn war. Und ich dachte: das ist Leben, das Leben. Kein Leben ohne Sprache. Daae die Sprache das Auge der Erfahrung ist, dies wird in diesen Notizen und Reflexen Handkes groaee, vielleicht einzige Wahrheit, die ihn besitzt und verhext, blind macht und sehend, die ihn verfolgt wie ein geliebter Feind. Deshalb leben seine Menschen nicht in sozialen Verhaeltnissen, sondern im Gnadenstand der Schrift die Sprache ist das Haus des Seins und das Licht der Welt ohne Sprache hat auch der mit Stummheit Geschlagene keinen Blick mehr. Doch Stummheit ist die Signatur des Zeitalters, denn unter der Despotie der Medien, am Ende eines eitlen Jahrtausends, ist die Menschensprache ausgewandert in das Leben der Dinge oder das vielstimmige Schweigen der Natur: Laae mich in Ruhe, Journalist.(...) Dagegen die Nachricht des Zikadenchors. Und so beschlieaet der Autor, am Felsfenster morgens, den UEbertritt aus der Gesellschaft der Menschen in die Gemeinschaft der Blaetter und Steine. Verstummen die Menschen, dann sprechen die Steine. Wer damals beim Roman Die Wiederholung seinen Augen nicht traute wer Handkes Solidaritaet mit dem Unbelebten fuer eine ontologische Grille hielt, der hat es nun schwarz auf weiae. Der Autor beglaubigt sein Werk und liest seinem Helden, dem Weltfremdling Filip Kobal, wiederholend von den Lippen. Mir scheint, jetzt erst, vor dem drohenden Ende der Welt, sind wir so frei, die Sprache der Welt zu sprechen, der Sonne, der Blumen, der Voegel, der Luft (das ist Literatur). Eine Kehre? Mit einer Klarheit wie nirgends sonst probt Handke den Aufstand gegen seinen Sprachzweifel und entwickelt seine AEsthetik der Aufmerksamkeit. Nicht Dekonstruktion, sondern Wieder-Holung nicht Woerter, sondern Worte, nicht Ironie, sondern Neutaufe: das soll fortan der Alltag eines Schriftstellers sein, der der Zivilisationsnatur jene Namen verleiht, die sie sich selber geben wuerde. So sei es. Unter dem Blick des Dichters faellt der Regen aufwaerts Noch vor Sonnenaufgang schickt sich Handke an, die Urgeschichte der Woerter freizulegen, ihren Ursprungssinn und ihr Urvertrauen. Er taucht ein in die archaisch ungeschiedene Welt, in jenen magischen Strom, in dem Recht, Moral und Kunst noch nicht auseinandergetreten und die Subjekte noch nicht entzweit waren: Im Karst herrscht eine sozusagen politisch-aesthetisch-ethische Stille - sozusagen? Dingaesthetik und Sprachmetaphysik: Aller Jubel, alle Verwerfung, die ganze Utopie der Notizen verdanken sich dieser ebenso heiklen wie raetselhaften Verbindung. Denn waehrend die Welt mit ihren Zeitungssprechblasen ohne Schatten des Goettlichen in der gekachelten Hoehle hockt, wuchert Handkes monochrome Einsamkeit und will - in den Euphorien der Muedigkeit, mit erhabener Schwaeche - nicht entschluesseln, sondern belauschen ohne Gewalt und ohne Macht, wund und verletzbar, poroes und rezeptiv. Weltempfaenglichkeit, ruft Handke, ist die Froemmigkeit des Denkens nur wer seinlaeaet, ohne wissen zu wollen, wer den Dingen ent-spricht und sie zur Form erloest - nur der hat Aussicht, daae sich ihm das Leben zuwendet in den Geschenken der Wahrnehmung. Erst dann, wenn das Subjekt ganz Auge wird, ohne die Suende der Reflexion, gleichsam in heilender Betrachtung, erst dann ereignet sich die Versoehnung als Wortwerdung der Welt. Sie steht still im eigenen Namen, der Regen faellt aufwaerts, und aus dem Wirrwarr wird Schrift. Im Ursprung der Sprache ist Frieden die Dinge schlagen die Augen auf, und sie verwandeln den, der sie verwandelt hat. Ein Ruck - und es ist nichts gewesen, keine Entzweiung, keine Schuld, keinerlei Endgueltigkeit. Keinen Leser werden diese Aufzeichnungen unberuehrt entlassen. Es sind Etueden der Aufmerksamkeit und der Selbstversicherung, oft praetentioese, sehr ungeschuetzte Versuche, durch die Augen der Schrift vom Vergaenglichen zu retten, was zu retten ist. Die Jaehzorngesaenge und Reinigungsoratorien sind verstummt groaeartig ist Handkes Danksagung an die Dauer, die Meditation der Zeit und der Wunsch, sein Maae zu finden, sein Leben zu fuehren mit Intensitaet - und Liebe. All das noetigt zur Bewunderung, und Handke setzt alles daran, beim Leser dafuer jenes pathetische Einverstaendnis einzufordern, mit dem er selbst seinen Gegenstaenden begegnet, sie feiert und errettet. Aber Pathos verdunkelt. Denn wer spricht? Was meint Handke, wenn er romantisch die Klassik aufruft und dekretiert, Literatur wiederhole die verblaaeten Muster der Welt? Falls es bloae Chiffren sind, dann waeren die Menschen souveraene UEbersetzer und frei im Handeln. Als Kopisten duerfen sie Fehler machen, und auch die Gesellschaft waere in Freiheit dazu verurteilt, die Umschrift der Wahrheit immer aufs neue zu interpretieren. Doch wie genau nimmt Handke die Differenz von Wiederholung und Freiheit? Oder verherrlicht er am Ende doch das archetypische Sein der Sprache, das eine Lebensordnung verhaengt, der sich die Menschen in Sack und Asche ergeben muessen? Vieles deutet darauf hin, daae Handke diese Differenz - zum ersten Mal in seinem Werk - einfach kassiert. So werden die Menschen zu Weisungsempfaengern, und sie mueaeten in stolzer Subalternitaet jene Urbilder, jene Archetypen wieder-holen, die der Dichter dem Sprachvergessen der Moderne entrissen hat. Diese Urbilder des guten Lebens, und darauf kommt alles an, sind sprachlich: sie wohnen in der Muttersprache, oder wie Handke sagt: Mutter Sprache. In ihr wurde das Unvergaengliche Ereignis sie war das aufgeschlagene Buch des Guten und Gerechten, bis sie in der technischen Zivilisation verraten und ermordet wurde: Ich hatte wieder einmal meine tote, von mir getoetete? Mutter bei mir, diesmal in Form eines langen flachen Pakets, das ein Buch war. Ich wollte diese tote Mutter loswerden und suchte nachtlang nach einem Platz ... Aber auf halber Hoehe wurde mir der Weg versperrt durch eine Bahnstation, eine nagelneue, elegante... Ich stand in dem leeren, blitzsauberen Bahnhofsraum, betrachtet aus der Entfernung von ein paar Beamten. Noch konnte niemand wissen, daae das eingewickelte Buch auf meiner Schulter die tote Mutter war. Was tun? Mutter Sprache. Man ahnt, warum Handke den demagogischen Schriftsteller Thomas Bernhard haaet, warum er Kafka erst eine Sumpfbluete nennt, um ihn dann goennerhaft als ewig Heranwachsenden vor der Tuer des Geistes willkommen zu heiaeen. Kafka? Knuepft endlich woanders an. Kafka wie Bernhard haben an die regressive Utopie der Muttersprache nicht glauben wollen, nicht an Urbilder und Archetypen, nicht an Ontologie und Leiblichkeit. Das Leben der Literatur gegen die Manipulation des Wissens In der Geschichte des Bleistifts war Kafka noch Handkes unerreichter Held, heute, nach seiner Kehre, macht er ihm den Prozeae. Denn Kafka blieb ein Exilant der Sprache, der mit seinen heimatlosen Woertern vor dem Gesetz verharrte, obwohl es ihm doch offenstand. Handke aber zoegert nicht. Er tritt ein, und siehe da, das Gesetz entpuppt sich als Mutter Sprache. Das Gesetz ist die Sprache des Dichters und nicht, wie bei Kafka, Aufschub, Abwesenheit, Spur. Im Hof der Wahrheit erloest Handke, der Praesenzmetaphysiker, die Dinge zum wahren Sein. Gott war nie im Exil. Und der Engel sagte zu mir: ,Sie, diese dort, haben die Rede du aber hast, hin und wieder, das Wort.' Im Einzugsbereich der Engel ist Handkes Leben dem Leben entrueckt. Doch welche Konfusion entsteht, wenn unterm Brennglas der Poesie die weltlose Ursprungsfiktion des wahren Daseins mit dem Laerm der falschen Gesellschaft abgeglichen wird, hat sein Serbienbuch vor Augen gefuehrt. Unversehens wird dem Sanftmuetigen der Krieg zum Naturschauspiel, das verschuettete Archetypen freilegt - jene Wahrheit, die der Dichter entziffert hat und am Felsfenster morgens nicht mehr erproben muae im Widerstreit der Welt. Fuer die Imagination der Literatur ist das eine Falle und als Politik durchaus zu fuerchten. Handke bedarf weder der Menschen noch der Geschichte, denn auf ihm, dem Erwaehlten, liegt der zeitlose Blick der Sprache und sonntags der Segen des Herrn. Gepraegt bin ich nicht vom Erlebnis der Historie, sondern von der Zeit auaeerhalb der Geschichte. Die Historie hinterlaeaet in mir keine Praegung, kein ,Wasserzeichen'. Was fuer ein Satz. Daae Frieden erst dann herrscht, wenn alle Menschengeschichte stillsteht und zur zweiten Natur gefriert - wer will, kann noch in der groaeen Zustimmung einen Protest erkennen gegen die von den Wissenschaften verbiesterte Welt und die obszoene Manipulation der Natur. Im historischen Schein extremer Bilder, in radikaler Weltverneinung, tastet die Kunst nach dem Unverfuegbaren der Zivilisation und fingiert einen Ursprung, in dessen Namen sie ihr Urteil spricht. Am Ende: Kein Einverstaendnis. So sei es. Autor(en): Assheuer, Thomas Bildunterschrift: Der Dichter in der Niemandsbucht AV Aufnahme: Aufnahme: Isolde Ohlbaum Datenbank ZEIT Dokumentnummer: 15842

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DIE ZEIT vom 25.04.1997 Seite 47 Nr. 18 FEUILLETON Der Ritter der Ploetzlichkeit Eine Maerchenstunde in Santa Fe: Peter Handkes Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus Es war einmal ein Mann. Der Mann hatte einen Freund. Der Freund sagt, Mann, erzaehl mir eine Geschichte! Da fing der Mann an: Es war einmal ein Mann. Der hatte einen Freund. Der Freund sagt, ,Mann, erzaehl mir eine Geschichte!`. Da fing der Mann an: . . . Soeben lasen Sie, wenngleich in ruede verkuerzter Fassung, den neuen Roman von Peter Handke. Oder sagen wir besser gleich: den neuen Abschnitt aus der unendlichen Geschichte ueber eine Geschichte, an der der Dichter seit nunmehr zwei Jahrzehnten schreibt. Kein Gesamtkunstwerk, eher ein Fahndungsbericht in Fortsetzungen, ein Gesamtsuchwerk: Langsame Heimkehr, Die Lehre der Sainte-Victoire, Der Chinese des Schmerzes, Die Wiederholung, Die Abwesenheit, die Versuche ueber die Muedigkeit, die Jukebox, den geglueckten Tag, zuletzt Mein Jahr in der Niemandsbucht - alles Stationen auf dem Kreuzweg zum absoluten Buch, Seitenfluegel, Haupt- und Nebenschiff der kuenftigen Kathedrale einer erloesten Literatur. Nichts als Vorstudien, ein einziges Prolegomenon, das am Ende wohl das Hauptwerk abgibt. Zwar voller winzkleiner Kostbarkeiten - Regentropfen im Wegstaub, Mistelbalken in den Baumkronen, Rest-Pommes-frites in Pappbechern, sirrenden Kuehltruhen im Supermarkt, wie sie keiner auaeer Peter Handke in deutscher Zunge besingen kann -, und doch poetologisch hoch- und immer wieder nach- und zugeruestet, schwer beladen mit den Lehrsaetzen und Rezepten einer AEsthetik der Versoehnung zwischen Wort und Welt. Letztlich eine lange Antwort auf eine kurze Frage: Wie erzaehlt man eine Geschichte? Zum Beispiel so: Es war einmal ein Mann. Der hat eine Apotheke. In der Apotheke traegt er seine weiaee Apothekertracht, auf der Straaee jedoch Hut, Anzug und Stecktuch. Das Haus des Apothekers liegt an der Saalach in OEsterreich. Am Morgen, nachdem der Apotheker in der Saalach geschwommen ist, stecken kleine Fluaekiesel in seiner Ohrmuschel, knirschen und klirren. Den Sohn hat der Apotheker verstoaeen, die Tochter ist in den Ferien, von der Frau lebt er getrennt, wenngleich unter einem Dach. Die Vorfahren des Apothekers stammen aus der Hohen Tatra, die Apotheke hingegen liegt in Taxham bei Salzburg. In seiner Freizeit sammelt der Apotheker Pilze, werktags ruehrt er im Hinterzimmer der Apotheke in den Toepfen und Tiegeln. Im Sommer liest der Apotheker ein mittelalterliches Ritter- und Zauberepos, abends speist er in einem Kellerlokal, halb unter der Erde, nahe beim Flughafen. Der Apotheker, sagen die Leute, sei der einzige Mann zwischen dem Untersberg und der Enge von Penedes, der so wirke, als habe er eine Geschichte zu erzaehlen. Der neue Handke-Roman hebt an, als sei's ein nachgeholter Roman ueber den literarischen Vorfahren und Landarzt Charles Bovary, den wahren Helden der geistigen Provinz und der Einfalt des Herzens. Der Mann aus Taxham hat nicht nur einen Allerweltsberuf und unauffaellige Manieren, er faehrt eine bestimmte Automarke, bevorzugt eine seltene Kaffeesorte und beschaeftigt sogar zwei Angestellte. Nie und nimmer wuerde man aus seinem Apothekermund die Schwellprosa des spaeten Handke vernehmen, nichts von den Fundamenten der Leere, dem Untergang des allerersten Reichs, kein Wort vom ausgestorbenen Koenigtum, der nie gekannten Ordnung fuer die dumme zerfahrene Jetztzeit, der Wiederkunft einer Sprache wie die vor dem Bau des Turms von Babel. Der Apotheker ist, obgleich er mit Andreas Loser, dem Helden des 1983 erschienenen Romans Der Chinese des Schmerzes, mehr als nur das einsame Leben im Salzburgischen teilt, kein Schwellenkundler und Vergil-Exeget, niemand, der den Hohlraum eines aus der Welt verschwundenen Zusammenhangs wortstark und gebildet abtastet. Er ist, anders als die lebenden Allegorien des juengsten Dramas Zuruestungen fuer die Unsterblichkeit, kein serviler Sprechautomat einer altersaengstlichen aesthetischen Ordnungssehnsucht. Der Apotheker aus Taxham ist eine durch und durch - Handke wuerde sagen: erfrischende Figur. Als ein zeitgenoessischer Gesellschaftsroman - durchflutet vom staendig mitklingenden Epos des unbestimmten Straaeen- und Fahrvolks - wurde die Apothekergeschichte bereits im 1994 erschienenen Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht annonciert. Der Apotheker von Erdberg sollte das Werk im Werk damals noch heiaeen und war ein aufgegebenes Romanprojekt des Niemandsbuchtbewohners, das schlieaelich von Georges Simenon weitergetippt wurde - wiewohl der wirkliche Apotheker von Erdberg dem Autor in die Niemandsbucht noch Jahr fuer Jahr aus der Ferne Material schickt und andeutet, er haette unter vier Augen viel fuer das Buch zu erzaehlen. Eine wahre Geschichte also, erzaehlt von einem wirklichen Apotheker, so will es die Fiktion. Eine Geschichte, die an einem wirklichen Ort spielt, einem Handkeschen Unort, einem Vorort-Ort in der Zwischen-, vom Dichter auch Zwickelwelt genannten Zone, an der Grenze oder Schwelle zwischen Natur und Zivilisation. Taxham, dessen Kirchenglocken schon im Chinesen des Schmerzes gelaeutet wurden, ist so ein halbzivilisierter Niemandsort, wie sie der Dichter bevorzugt. Ein Randstreifengebiet, das, so wird im Roman Die Wiederholung erzaehlt, im Dorf seiner Jugend hinter den Gaerten hieae und eine Gegend bezeichnete, die zwar bewohnt war, aber nicht mehr so recht zum Dorf gezaehlt wurde, weil dort die Alleinstehenden hausten. Anmutig, schmucklos, gemaechlich beginnt diese Erzaehlung, trottelt ueber einige Dutzend Seiten in einem makellosen Imperfekt zwischen dem Haus am Fluae, der Apotheke und dem Flughafen seelenruhig hin und her, ohne daae abzusehen waere, wohinaus solch dichtende Schneckenpost heute fuehrte. Mal faehrt der Apotheker mit dem Radl, mal philosophiert er ueber die Macht des Erdreichs (nicht vom Weltall geht es aus, sondern von da unten). Mal huepft unversehens eine Amsel ueber den vergilbten Rasen, mal laermt ein Rabe durch die Stille des selbst von den Festspielen vergessenen Ortes und ueberbringt dem Herrn der Kraeuter und Tinkturen seine naturmagische und wortlose Botschaft. Es ist Frieden, eine unbestimmte Zwischenkriegszeit zwischen den ueblichen Schrecken, eine Zeit, fuer die keine Zeitungen, keine Fernsehnachrichten zustaendig sind: die Zeit, da diese Geschichte spielt. Es ist die reine Zeit der Erzaehlung, die es wie im Maerchen jenseits des Buches nicht gibt, aus der man nichts fuers Leben lernen, nichts ableiten und nichts mitnehmen kann - eine Zeit, die nur gilt, solange der Zauber des Erzaehlens anhaelt. Das macht den Unterschied zwischen den beiden Veraechtern der modernen Zeiten, den beiden Verfechtern einer neuen, alten Ordnung, zwischen Botho Strauae und Peter Handke: Waehrend der eine die verachteten Massenmenschenkinder verbittert von seinem Sofa aus an die Kandare eines elitaeren Gesetzes nimmt, dessen Geltung weit ueber das Hoheitsgebiet der Literatur hinausfuehrt, genuegt es dem anderen (wenn er nicht gerade als Kriegsberichterstatter im jugoslawischen Buergerkrieg dilettiert), seine nachsichtig umworbenen Leser fuer die Dauer eines Buches aus dem blechernen Zeitalter zu entlassen. Menschen- und Weltenlenker der eine, Buchmagier und Erzaehldruide der andere. Der Schein truegt, was sonst sollte er tun. Der Frieden des Beginns, der dem interesselosen Dahinerzaehlen, von dem der Dichter so viel haelt, schon ganz nahe war, wird jaeh zerstoert. Ein Stein faellt in das bukolische Bild und dem Pharmazeuten auf den Kopf. Der erwacht fuer ein langes Zwischenspiel des Schreckens, verliert seine Sprache und macht sich auf den Weg. Von einem Abenteuer wie in den Ritterromanen ist die Rede. Die Spieaegesellen, ein heruntergekommener Skiweltmeister und ein abgewrackter Dichter, findet der Ritter der Ploetzlichkeit in seinem angestammten Erdkellerlokal, das Reisegefaehrt (sonst ging es bei Handke nur zu Fuae auf Seelenwanderschaft) steht vor seiner Haustuer, ein groaeer Wagen - immer das neueste Modell. Und auf geht's, hinein in die Autotunnel Europas, ab ins Herz der Finsternis, wo kein Mensch mehr haust und keine Blume mehr blueht. Hinunter zum Nullpunkt der Literatur, dahin, wo sie angeblich am reinsten und am stillsten ist - im leeren Buch, auf der weiaeen Seite. Von derartig ehrgeizigen Reisezielen ist allerdings waehrend der kleinen Autofahrt der drei Desperados nicht die Rede. Im Gegenteil: In der europaeischen Allerweltswelt, in der alles gleich aussieht und jeder Tunnel an seinen Ausgangspunkt zurueckfuehrt, ist das Fortkommen der Reisegruppe, ist der Fortgang der Erzaehlung zunaechst in Gefahr. Um hier Abhilfe zu schaffen, greift der Dichter beherzt in die Requisitenkiste des Kunstmaerchens - ein Brief, von unsichtbarer Hand in die Tasche des Apothekers befoerdert, schickt die Reisenden nach Santa Fe, in die Nachtwindstadt, wo die Abenteurer, gefuehrt von dem Mond, einem fremdartigen Sternbild oder schlicht von dem Nachtwind, auch gleich die gesuchte Straaee, das richtige Haus finden. Das alles traegt sich zu auf unauffaellige Weise, weit unterhalb der Peinlichkeitsgrenze, der beruechtigten Handkeschen Wortveredelungs-Technik, der neoromantischen Reflexionspoesie, der Folklore des Urspruenglichen, wie wir sie inzwischen kennen- und fuerchten gelernt haben. Der neue Roman ist ein Maerchen mit allen Vorzuegen der poetischen Kleinbauernprosa des Dichters - dem bedaechtigen Gesang, der sparsamen, beinahe bilderlosen Sprache, der Gelassenheit und kunstvollen Absichtslosigkeit der Beschreibung, dem Willen zum Wunder -, ohne deren Kehrseite, die metaphysische Trachtendiele. Was koennen drei Salzburger Rittersleut', die ausziehen, das Abenteuer zu suchen, in einem modernen Maerchen wohl finden? Der ausgediente Dichter findet in Santa Fe eine Tochter, die als Straaeenkoenigin das jaehrliche Stadtfest anfuehrt. Der Apotheker entdeckt in einem der Festmusikanten seinen verstoaeenen Sohn (eine Studie ueber die verstoaeenen Kinder und verschollenen Vaeter im Werk des Peter Handke koennte einige Doktoranden beschaeftigen) stellt aber fortan quer durch das angrenzende OEdland einer mordlustigen Witwe nach, die ihn auf einer Zwischenstation nach Art der Penthesilea schlagend und zaehnefletschend in Liebe umfing. Zu Fuae, im bleichblauen Arbeitsgewand, zieht der Apotheker durch die Savanne, Nachfahr der vielen Handkeschen Karst-, Hochland- und Niemandsbuchtlaeufer, die ihr Heil nicht im Dickicht der Staedte, sondern in der Dunkelkammer einer von der Kultur vergessenen Weltgegend suchen. Hier trifft er diverse bekannte Figuren aus dem Werkzeugkasten Peter Handkes. Der Hausierer pfeift munter aus der Ferne herueber. Andreas Loser, der Moerder, Steinewerfer und Lehrer alter Sprachen aus dem Chinesen des Schmerzes, laedt den Apotheker zu einem stummen T e in der Sabana de la Sonora, einer fernen Verwandten des gelobten neunten oder auch sonoren Landes, wie eines der kuenstlichen Paradiese des Dichters einmal hieae. Stumm, einsam, weltverloren ist der Taxhamer Kreuzfahrer in der Steppe am Ziel der Handkeschen Erzaehlkunst: im Zentrum des Nichts und im Kreisverkehr des eigenen Werks, das kunstvoll und eifrig auf sich selber, sonst aber auf nichts mehr verweist. Erzaehlen und Steppe wurden eins, orgelt der Apotheker auf dem Hoehepunkt seiner Irrfahrt, Innen und Auaeen durchdrangen einander, wurden, eins am anderen, ganz. Mehr kann der Traeumer absoluter Poesie nicht erreichen. Die wundersame Reise ans Ende der Nacht fuehrt dahin, wo aller Tage Abend ist. Und wirklich haette hier ein groaeer Pilz den Pilzfreund ums Haar zu sich ins Erdreich hinabgezogen, waere nicht in letzter Sekunde die Witwe erschienen, den schon in Todesschweiae gebadeten Apotheker und irgendwie auch den Dichter Peter Handke ins Leben zurueckzufuehren: Du bist an die Grenzen der Welt geraten, Freund. Und du bist in Gefahr, jenseits der Grenzen der Welt zu geraten. Deswegen wirst du einen Anlauf zum Neu-Sprechen unternehmen, zum Worte-Neufinden, zum Satzneubilden, laut, zumindest tonhaft. Und wenn dein Reden auch stockfalsch und bloedsinnig ist: Hauptsache, du tust wieder den Mund auf. Ein weiteres Mal zieht das Weibliche den Mann also hinauf. Die Erdfahrt der Erzaehlung ins sechsunddreiaeigste unterirdische Stockwerk, wo nach Francis Ponge der Dichter sein kosmisches Wortwerk verrichten soll, findet auch in diesem Buch wieder nicht statt. Die beste Erloesung ist die, die nicht eintrifft. So faehrt der Apotheker zurueck zu seinen Pillen, Salben und Saeften und erzaehlt nach vollbrachter Aventuere seinem Bruder Grimm, dem Aufschreiber, das Maerchen von einem, der auszog, eine Geschichte zu finden - und eine Geschichte heimbringt, in der einer erzaehlt, wie er einem erzaehlt, daae er auszog, eine Geschichte zu finden. Es war einmal ein Mann . . . Es war einmal ein Dichter. Dem waren vom vielen Dichten die Worte ganz leicht und der Kopf ganz schwer geworden. Da verlieae er sein stilles Haus und zog in den Krieg, zu den wirklichen Dingen und den blutigen Tatsachen. Im Krieg hat er seinen Kopf verloren, und die Worte sind ihm matt und krank geworden. Der Apotheker aus Taxham hat den Dichter geheilt. Er hat ihm kein neues Koenigreich und auch keinen neuen Buergerkrieg versprochen. Aber er hat ihn besaenftigt mit dem Wunderkraut des Maerchens, den Salben der Poesie und den Traenklein der Einfalt. Und so wurde aus dem kriegswuetigen Dichter am Ende ein Koenig. Keiner mit Zepter, Reich und Krone, aber doch einer, dem das Erzaehlen geholfen hat. Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997 316 S., 48,- DM Autor(en): Radisch, Iris Bildunterschrift: Peter Handke.Ein Koenig, dem das Erzaehlen geholfen hat AV Aufnahme: Aufnahme: Oliver Herrmann Datenbank ZEIT Dokumentnummer: 9496

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Auf Erweckungsfahrt

19. Januar 2002 Peter Handke ist zum Albtraum der Reiseveranstalter geworden. Denn in seinen Romanen geraet jede Reise zur Pilgerfahrt, jede Pilgerfahrt zum Abentueertrip und jeder Abentueertrip zum Bildungsurlaub. Alle Handkeschen Entdeckungs- und Erweckungsreisen fuehren ans Ende unserer Welt und in das Herz einer anderen, einer besseren Welt, der Anders- oder Handke-Welt, in der man nicht reist, sondern ziellos-zielgerichtet unterwegs ist, dem Flug eines Birkenblatts und der inneren Stimme folgend. In dieser Welt kann man sich nicht verlaufen, gilt doch jeder Irrweg in ihr als Abkuerzung. Je weniger einer sich hier zurechtfindet, desto naeher seinem Ziel darf er sich waehnen. Wie jeder Vergnuegungspark ist auch die Handke-Welt auf einer ueberschaubaren Grundflaeche errichtet, aber derart raffiniert, dass der Eindruck einer unueberschaubaren, gigantischen Ausdehnung entsteht. Das geht nicht ohne gehoerigen Aufwand ab. Und so umfasst der nueeste Anbau 759 Seiten, von denen knapp fuenfhundert auf der Stelle treten. Sein Titel: =Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos=.

Fast achthundert Seiten, die nicht durcheilt, sondern durchwandelt sein wollen, und in denen eine ganz eigene Zeitrechnung Gueltigkeit beansprucht. Stunden, Tage und Sekunden sind in diesem Buch meistens =stoerende, unnoetig entzaubernde Einheiten=, stoerend in einer Welt, die nach Verzauberung verlangt, weil sie an ihrer Entzauberung leidet. Es ist erkennbar unsere Gegenwart, die Handke hier zeichnet und deren gegenwaertige Entwicklungen er zuspitzt und in die Zukunft verlaengert: Die Globalisierung hat zum Ende der Nationalstaaten gefuehrt, eine Art Weltregierung ist etabliert und an die Stelle des Nationalismus das Bekenntnis zur Region getreten. Dieser profanen Gesellschaft droht, von den meisten ihrer Mitglieder unbemerkt, die Katastrophe des =Bildverlusts=. Darunter versteht Handke das Ausbleiben von =Bilderfunken und Funkenbildern=, die unwillkuerlich ins Bewusstsein treten, eher Eingebungen als Erinnerungen: =Wohl gehoerte das jeweilige Bildobjekt zu eines jeden persoenlichen Welt. Aber das Bild, als Bild, war universell. Es ging ueber ihn, sie, es hinaus. Kraft des offenen und oeffnenden Bildes gehoerten die Luete zusammen. Und die Bilder waren zwanglos, anders als jede Religion oder irdische Heilslehre.=

Diese Bilder, die sich weder stueern noch gar festhalten lassen, sind die Grundlage des =Bilderglaubens= und der auf reiner Anschauung gegruendeten Gemeinschaft der Bildmaechtigen, wie man jene nennen koennte, denen die Gnade des Bildersehens zuteil wurde. Und wie jeder Glaube hat auch dieser eine Prophetin. Es ist eine alleinlebende Finanzexpertin, die =Bankenfrau=, eine international bekannte =Finanzweltmeisterin=, Mutter einer verschollenen Tochter, Geliebte eines abwesenden Liebhabers, Abentuererin und Weltreisende, schliesslich Auftraggeberin des Buches, das ein =Autor=, der Erzaehler, nach ihren Wuenschen schreibt. Sie ist Handkes schoene Erwaehlte, eine sendungsbewusste weisse Magierin, wie die Kraefte des Guten stark und schwach zugleich. Die Bilder =erhoehen= ihren Tag und =bekraeftigen= die Gegenwart, sie machen die bildglauebige Finanzfrau unangreifbar und wehrhaft, eine Herrscherin unter den Menschen, im Bunde mit den Tieren: =Vor allem die schueesten Tiere erkannten (ja, ,erkannten+), wenn jemand ,im Bild+, ganz im Bild, ganz bei sich im Bild war. Vor so einem verloren sie nicht bloss ihre Schue. Sie bezogen ihn, wenn auch nur fuer den Augenblick, doch was fuer einen!, ein in ihr Dasein. Nicht nur, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatten: sie wollten ihm, ein jedes auf seine Weise, gut.=

In diesen Saetzen hat man den Handke-Ton: das Nebeneinander von gesucht-pathetischen Ausdruecken und Floskeln, von muendlichem Tonfall und Kanzleistil, von mit traumwandlerischer Sicherheit glueckenden Formulierungen und tastenden, suchenden, ans Stammeln grenzende Saetzen. Neben die hauefigen Wiederholungs- und Bekraeftigungsformeln treten im Verlauf des Romans zunehmend Signale der Mehrduetigkeit, des Unbestimmten. Immer wieder wird der Satzfluss unterbrochen von Bekraeftigungen, Praezisierungen, Nachfragen. So entsteht ein Erzaehlgestus der allernervoesesten Bedaechtigkeit, exakt und vage, selbstgewiss und tastend, kunstvoll, respektheischend und unendlich nervtoetend.

Er taucht das Buch in ein Zwielicht, das nur ab und an von Saetzen aufgerissen wird, in denen Naturphaenomene beschrieben werden, wie nur Handke sie beschreiben kann: =Aus dem dichtverflochtenen, frostverkruemmten und verzahnten Efuelaub ueber der Mauer am Ende des Gartens schnellten und spritzten im Bogen die kleinen, braunschwarzen, blaubehauchten Fruchtkugeln, jetzt zum Winteranfang reif geworden, und sie hoerte im Innern der Hecke ein Picken, Schnaebeln und Schmatzen.=

Doch Saetze wie dieser, mit dem eines der =Bilder= der Heldin beschrieben wird, bleiben die Ausnahme. Weit hauefiger sind Zuckerwatte-Sentenzen und klebrig-kitschige Passagen wie die vom aus dem Winterschlaf aufgewachten Igeljungen, das durch den Garten trippelt, die Heldin mit seinem =gummiharten, ziemlich kalten schwaerzlichen Ruessel= anstupst und spricht: =Geh nicht fort. Der Garten ist so oede ohne dich. Ich moechte im Schlaf deine Schritte hoeren.= Dass das Jungtier, eine =Waise, allein=, seinen Winterschlaf nur fuer diese Mitteilung unterbricht, versteht sich von selbst, wird aber dennoch hingeschrieben.

Wer fuer Pretiosen und Naschwaren dieser Art nicht empfaenglich ist, muss leiden. Es bleibt ihm wenig erspart, denn Handke, dieser reizbarste unter den Friedfertigen, zielt in seinem nueen Buch wiederum auf Grosses. Die Ausdehnung des erfuellten, des glueckhaften Augenblicks, das ist Handkes Projekt seit langem. Nun postuliert er mehr: =das groessere Jetzt= moege herrschen und =bestimmend sein=. Hinter der kryptischen Bezeichnung verbirgt sich die Gegenwart, =nur eben mit dem Zusatz anderer Zeiten; die Gegenwart, wie sie immer gewesen war=. Der Heldin erscheint jenes ueberzeitliche =ganz-Jetzt= als Park und Garten und schliesslich als Gehege: =das Gehege der groesseren Zeit=.

In diesem Luna-Park koennten Mensch und Tier in kreatuerlicher Unschuld leben, und alle waeren allen so gut wie der Igel der Bankenfrau - die Gegenwart als Goldenes Zeitalter. Aber Handkes rueckwaertsgewandte Utopie handelt vom Verlust, und die Reise, die dieser Roman erzaehlt, wird unternommen nicht etwa, um den Verlust abzuwenden, sondern um ihn spuerbar werden zu lassen.

In der =Hochgrube= Hondareda, der Senke eines weitgehend ausgetrockneten Gebirgssees in der spanischen Sierra de Gredos westlich von Madrid, ist diese Reise an ihr vorlauefiges Ziel gelangt. Hier leben die =Umwandler=, die letzten Menschen, die sich dem Bildverlust entgegenstemmen. Eine Fluchtburg im Gebirge, die dem Untergang geweiht ist, denn die profane Gegenwart laesst sich nicht ausgrenzen. Der Aufenthalt in Hondareda ist die letzte einer Reihe von Stationen einer Aventiure, die in einer duetschen =Hafenstadt= ihren Anfang nimmt. Hier wohnt die Bankfrau und Pilgerin, hier beauftragt sie den =Autor=, ihre Geschichte niederzuschreiben und zu erzaehlen. Wie andere in die Geschichte eingehen, so will sie =eingehen in die ,Erzaehlung+=. So wird ein =Lieferantenvertrag= geschlossen, ein Dienstleistungsverhaeltnis begruendet. Die Auftraggeberin berichtet und erteilt Anweisungen, der Autor stellt Fragen, hakt nach. Jedes Detail ist Verhandlungssache: =,Der Autor: ,Soll und darf das in das Buch?+ - Sie: ,Ja.+=

Dieser Erzaehlrahmen erinnert ebenso wie der Ort der Handlung, die karge Steppenlandschaft der spanischen Sierra, und manches andere Detail an Handkes letzten, 1997 erschienenen Roman =In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus.= Wieder gibt es zwei Erzaehlinstanzen: Damals den Apotheker von Taxham und seinen =Aufschreiber=, huete die =Bankenfrau= und =Finanzweltmeisterin= und ihren Autor, den =Lieferanten=. Handke bedient sich dieser Zweiteilung, weil sie ihm erlaubt, das Nebeneinander von Muendlichkeit und Schriftlichkeit zu simulieren.

Im tonlosen Selbstgespraech des Erzaehlers vermutete der Apotheker den Urgrund der Literatur, dem =Autor= im nueen Buch gilt die Muendlichkeit als =der Grund- oder eher Untergrundzug=, zudem als =Gegenprobe=. Ging es vor vier Jahren um die Muendlichkeit als Quelle des Erzaehlens, so geht der nuee Roman gleichsam einen Schritt zurueck: in vorschriftliche, ja beinahe vorsprachliche Gefilde. Der Bildverlust, von dem der Titel spricht, kuendet von der fuer Handke groesstmoeglichen Bedrohung: =Der Verlust der Bilder ist der schmerzlichste der Verluste.= - =Es beduetet den Weltverlust.= Seine Ursache liegt im =Raubbau an den Bildergruenden und -schichten=, den das bilderwuetige zwanzigste Jahrhundert getrieben haben soll. Der =Naturschatz=, so sind sich Autor und Abentuererin am Ende einig, sei aufgebraucht, man zapple als Anhaengsel an den =gemachten, serienmaessig fabrizierten, kuenstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortaueschen=.

So banal, auf dem Niveau der alltaeglichen Medienkritik, endet der nuee Roman von Peter Handke. Aber noch ist das Buch nicht ganz zu Ende. Noch steht die naechtliche Vereinigung zweier Liebender bevor (=man war fuereinander bereit. Zucken der Lippen.=), noch fehlt die Umarmung von Autor und Prophetin und das Heilsversprechen. Die Bilder sind verloren, aber man kann noch nach ihnen suchen: =Ein Suchen gab es, wobei das Gesuchte schon gefunden schien, weit wirklicher und wirksamer, als waere es wirklich gefunden worden. Und so ein Suchen war das Suchen fuer jemand anderen und fuer andere.= Ein Suchender erloest also den anderen? Ja, das ist die Kettenreaktion des Kitsches.

Peter Handke: =Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos=. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 759 S., geb., 29,90 Uero .

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.01.2002, Nr. 16 / Seite 52


Suche nach dem vorurteilsfreien Blick

Von Ulrich Ruedenauer

Peter Handke legt das fuenfte Journal vor, das die Jahre 1987 bis 1990 umfasst =Gestern unterwegs= zeigt auch das Ankommen des Autors

Mit-Schreiben bedeutet, teilzuhaben an den Dingen, sich einzulassen auf den Augenblick, Distanzen zu ueberbruecken. Es ist die Faehigkeit, dem Moment im Wort Gestalt zu geben, ihn nicht durch Reflexion erst entstehen zu lassen, sondern in der Erzaehlung.

=Gestern unterwegs=, schreibt Peter Handke im Vorwort seines neuesten Journals, =gibt sich, nach dem Gewicht der Welt, der Geschichte des Bleistifts, den Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster morgens, als die letzte Phase meines Mit-Schreibens mit den taeglichen und naechtlichen Geschehnissen.= =Gestern unterwegs= markiere, so Handke weiter, auch den uebergang vom puren Mit-Schreiben zum =nachtraeglichen, leicht zeitversetzten Notieren: von dem, was jetzt geschieht, zu dem, was gestern geschah, und vorgestern, und vor einigen Tagen, und vor einer Woche...=. Einen Grund fuer diesen uebergang fuehrt Handke ebenfalls an: Es haenge wohl mit dem staendigen Unterwegssein zusammen.

Das fuenfte Journal, das die Jahre 1987 bis 1990 umfasst und den bezeichnenden Titel =Gestern unterwegs= traegt, dokumentiert eine Zeit der Wohnsitzlosigkeit, des Reisens, des Gehens. Unterwegs ist Handke in Slowenien oder Japan, in Spanien oder England, Italien oder Griechenland. Immer wieder vergewissert er sich aufschreibend des vorangegangen Tags, und im Erblicken einer Landschaft oder einer Stadt erinnert er sich anderer Landschaften und anderer Staedte. Im Gehen vergeht die Zeit, aber sie entsteht auch allererst: Erinnerung ist fuer Handke gleich Geschichte, unkorrumpierte Erzaehlung. Schauen und Gehen und Beobachten als Teilnahme  immer naeher geraet Peter Handke seiner Vorstellung von Epik, seinem Verlangen nach Erhabenheit und Schoenheit, die sich in den lakonisch kurzen und dann wieder wuchernden, den Naturformen nachgebildeten Saetzen ausdrueckt.

=Gestern unterwegs= besteht œ wie auch die vorhergegangenen Journale  aus kurzen Erzaehlskizzen, aus kleinen Notaten zu entstehenden Werken (=Versuch ueber die Muedigkeit=, =Der Bildverlust=, =Versuch ueber die Jukebox=), aus Natur- und Kunstbeobachtungen, teilhabenden Beschreibungen alltaeglicher Ereignisse und Erlebnisse, aus einleuchtenden und manchmal gewagten Aphorismen. Es ist, als wuerde man darin den verdichteten Handke entdecken koennen: =Das Schreiben hat ein Abenteuer zu sein, oder es ist nicht  und es ist mir doch fast noch jedesmal gelungen, mich in solch ein Abenteuer zu verwickeln? verwickeln zu lassen?= Fuer Handke hat Schreiben mit Dringlichkeit zu tun, er moechte =durchdrungen sein= von der ihn umgebenden Welt, auf die er sich gehend einlaesst.

=Gestern unterwegs= zeigt auch einen Autor, der endgueltig an einem Wendepunkt angelangt zu sein scheint: Immer staerker konzentriert er sich auf ueberzeitliches, Exemplarisches, Gelebtes; das Tagesgeschaeft ekelt ihn an, Zeitungen liest er nur mit Widerwillen, die aktuellen Ereignisse finden kaum Eingang in die Schrift. Wirklich wird fuer Handke nur, was er aufschreibt. Sprechen ist fuer ihn Geplapper; darin sind die gewoehnlichen Dinge aufgehoben.

Handke ist auch in diesem Journal auf der Suche: nach Stille, nach einer anderen, der Welt des Geredes abgetrotzten erzaehlenden Sprache, nach einem kindlichen, vorurteilsfreien Blick auf die Dinge. Das geht nicht ohne Pathos ab, nicht ohne Bitterkeit und auch Zorn auf die, denen diese Ernsthaftigkeit nicht gegeben ist. In einer Zeit des Banalen erscheint diese Unbedingtheit, die Wahrhaftigkeit anstrebt, wohltuend. Eigentlich moechte man nicht als einer aus der =Sekundaerwelt= auf diese Skizzen antworten, sondern gleichfalls mit Poesie. Aber wie koennte das gelingen?

Peter Handke: =Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990=. Jung und Jung. 553 Seiten. 25 Euro. ISBN 3-902144-99-8.

=Von Ulrich Ruedenauer



  

Aufbruch in den Toten Winkel
In seinem neuen Roman »Kali. Eine Vorwintergeschichte« besingt Peter Handke die edle Einfalt des Salzbergwerks
 
Fabian Thomas
 
Peter Handke: Kali160 Seiten, groß bedruckt. Bei einem konstanten Lesetempo von etwa zwei Seiten pro Minute hat man »Kali. Eine Vorwintergeschichte« in gut zweieinhalb Stunden durch. Was bietet der neue Handke in diesem knapp bemessenen Zeitraum dem Leser?
 
Eine namenlose Sängerin unternimmt eine Reise zu einem fremden Ort, dem »Toten Winkel«, wo ein surrealer Salzberg die Landschaft überschattet. Der Gemeinschaft um das Bergwerk dort kommen auf mysteriöse Weise die Kinder abhanden, »verschwinden, gehen, jeden Tag mehr, verloren, sind verschollen.« Handkes Heldin wird den jüngst verschollenen Andrea wiederfinden. Doch davon weiß sie zunächst nichts.
 
Der Roman setzt ein nach dem letzten Auftritt ihrer Tournee; gleichzeitig ist es auch der Beginn des Winters. Eine geheimnisvolle Bestimmung veranlasst die »Vorwintersängerin« Genannte, die Großstadt der Hochhäuser, Neonreklamen und Zeitungsverkäufer, die den Ewigen Frieden ausrufen, während die Zeitungen vom Dritten Weltkrieg berichten, zu verlassen. Ziel ist ihr Kindheitsort, genauer: die Nachbargegend dieses Ortes, der Tote Winkel. Grund für die Abreise ist die Liebe – zu wem, wird hier vorerst nur rätselhaft umschrieben: »Einer gehört mir. Wird mir gehören. Einer. Bald schon. Demnächst. So steht es geschrieben. Er weiß es bloß noch nicht. Wehe ihm. Wohl ihm.«
 
Als die Sängerin, nun schon im Fernzug, in einem tags zuvor gefundenen, verkohlten Buch blättert, stößt sie unvermittelt auf die Überschrift »Un pays dont nul ne revient«. Das Buch ist Chrétiens »Lancelot«, und »ein Land, aus welchem keiner wiederkehrt« scheint nun auch das Ziel der Sängerin zu sein: Angekommen an ihrem Kindheitsort, zieht sie nach einem nur kurzem Aufenthalt weiter zu einem Gewässer, laut Hinweisschildern zwar als »Meer« tituliert, augenscheinlich »freilich eher ein See«. Sie setzt per Schiff über zum Salzberg am jenseitigen Ufer. Herrschte schon zuvor der Eindruck, dass hier im wörtlichen Sinne »Neuland« betreten wird, macht der Erzähler es nun explizit: »Die Ankunft in dem Hafen war die an einer Grenze, an einer Grenze von der Art, wie sie in unseren Breiten längst abgeschafft sind – unwillkürlich wollte man seinen Paß ziehen.«
 
Der nicht näher erklärte, rätselhafte Ausspruch »Einer wird mir gehören« wird nun aufgeklärt: Es ist der Leiter des Salzbergwerks, zu dem die Sängerin in einer traumwandlerischen Bewegung hingezogen wurde. Dieser hat sie schon erwartet und ist bereit, sich auf sie einzulassen, doch wird ihm auf einmal klar, dass es für sie und ihn den Tod bedeutet. »Sie, Frau, verkörpern den Tod.« – »Ja, wenn wir beide, unser beider Körper, einander lieben, müssen wir sterben, Sie mit mir, und ich mit Ihnen. Jetzt ist es gesagt. Und da es gesagt ist, hat es zu geschehen.«
 
Peter Handke versammelt in seinem neuen, kurzen Buch mythische Figuren in einer eigenartigen Gegenwelt, die Züge der unsrigen trägt, gleichzeitig aber magisch aufgeladen ist. Eine entsprechende Deutung der Titelheldin liegt bereits vor: dass »sie«, die namenlose Sängerin, letztlich niemand anderes als eine Verkörperung der indischen Totengöttin Kali ist, aus deren Vernichtungstanz neues Leben entsteht. Damit erweist sich der Romantitel rückblickend als doppeldeutig, und die merkwürdige Handlung fügt sich in ein Ganzes: Kali, die Sängerin (auch wenn sie im Buch nie so genannt wird), flüchtet aus einer gänzlich verkommenen Welt ins märchenhafte Land des Kalisalzbergs, um dort zusammen mit dem »Salzherrn« zu sterben.
 
Doch soweit kommt es nicht. In einer bezaubernden Szene, kurz vor dem Todessprung vom Gipfel des Salzbergs, ertönt plötzlich eine Stimme aus dem tosenden Wind: »Allein daß du es gesagt hast, heißt nicht, daß du es tun mußt. Denn nirgends steht es geschrieben«, und weiter: »Ihr seid frei. Ab mit euch.«
 
Handkes Helden erfahren eine Erlösung vom Tod und zugleich vom bestimmenden Schicksal, das ihnen der Mythos auferlegte. In einer ähnlich märchenhaften Szene entdeckt die Sängerin, die auch eine »Finderin« ist, zu guter Letzt das verschwundene Kind wieder und führt es in die in der Kirche (!) versammelte Gemeinschaft zurück. Auch die Bewohner des Toten Winkels werden so schließlich erlöst – ein Happy End wie aus dem Bilderbuch.
 
Der Ton ist recht feierlich, und auch wenn die mythische Ausgestaltung stellenweise etwas dick aufgetragen daherkommt, ist dies doch ein Roman mit einer auf eigenartige Weise magischen Atmosphäre geworden. Die eigenwillige, oft kindliche Sprache, die sich im Grenzbereich zum Lyrischen bewegt und eine Erzählinstanz, die sich mehr tastend fortbewegt und dabei nie viel mehr als der Leser selbst zu wissen scheint, schaffen eine Leichtigkeit, die Freude am Lesen macht. Bisweilen entstehen auf diese Weise sogar komische Effekte, beispielsweise wenn die Sängerin vom Erzähler holprig als »Eindringlingin« bezeichnet wird. Die Verbitterung über die Welt, die Handke stellenweise überdeutlich anzumerken ist, wird dadurch dankenswerterweise etwas abgeschwächt.
 
Volker Weidermann erzählt in seiner Literaturgeschichte »Lichtjahre« die folgende Anekdote über Peter Handke: Als der junge Poet mit Beatles-Frisur auf dem Gruppe-47-Treffen in Princeton auftauchte und die ehrwürdigen Literaten erschreckte, griff Günter Grass kurzerhand zum Stift und schrieb dem Aufmüpfigen auf seine blaue Schirmmütze die Worte »Ich bin der Größte«. Es ist ein weiter Weg vom Auftakt als bewusst sich inszenierender Skandalschriftsteller, der seinen Gedichten Titel gab wie »Anleitung zu einem Amoklauf«, bis zum Handke dieser Tage. Am ehesten wohl zeigt dies der Roman »Mein Jahr in der Niemandsbucht« aus dem Jahr 1994, ein 600 Seiten starkes Epos über Vereinsamung, Abhandenkommen der Welt und das Schreiben darüber. »Kali« knüpft in Ton und Themenwahl vielleicht gerade an diesen Text an; wenig ist zu spüren von der heftig diskutierten verqueren Sicht auf das ehemalige Jugoslawien, die Handke im letzten Jahr bei den Querelen um den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wieder einholte.
 
Das letzte Wort sei daher der Pfarrerin überlassen: »Und nun ausgezittert. Weg von den Dramen. Weg auch von den Liedern. Und auch genug gepredigt – wenn ihr andrerseits dieses oder jenes Predigen hochhalten mögt. Zurück zur Prosa. Ihr seid alle bei mir drüben eingeladen.«
 
 
 
Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007. 160 Seiten. ISBN: 978-3-518-41877-2. 16,80 Euro.
 
(8. Mai 2007)
http://kritische-ausgabe.de/index.php/archiv/921/
 
              Peter Handke: Kali - Eine Vorwintergeschichte
              Die Rettung des Glücks in der Kindergegend
              
              
Peter Handke, das Enfant terrible der deutschen Literaturszene, riskiert mit dem Buch "Kali – Eine Vorwintergeschichte" aufs Neue. Er riskiert keinen Streit um Politik und Fakten. Er riskiert Poesie. Wagt sich weit hinaus mit einer Grammatik, die stolpern lässt über alltägliche Worte. Mit Sätzen, bestens geeignet, um sie allesamt zu unterstreichen. Und mit einer Geschichte, die vielleicht keine sein will. Die zeitlos bleibt und doch so vieles unserer Zeit anklagen könnte. Wenn der Leser es nur will.
              
Die Hölle im toten Winkel
Die Erzählung spielt zeitlich wie räumlich im Unbestimmten, “In einer Zeit, in der so viel möglich war wie vielleicht noch nie, im Bösen wie im Guten“. Der dritte Weltkrieg wütet unsichtbar. “Eine Hölle aus Zehn Milliarden Erkennungsmelodien. Eine Hölle der Apparaturen, Tastaturen und Systeme“. Hindurch wandern Figuren, die am seidenen Faden mit der realen Welt verbunden sind und doch ganz entrückt gehen. Menschen, denen das Glück abhanden gekommen ist. Nun warten sie auf eine Frau, die alles wieder findet, wo es keiner erwartet. Vielleicht auch die Hoffnung.
              
Die Reise zum Salzberg
Die Heldin der Geschichte ist eine Sängerin, ein Star, weit herumgekommen. Sie hat besondere Fähigkeiten: was sie ausspricht, das wird wahr. Viele Männer wollen die ihren sein, doch sie gehört niemandem. Aber einer ist für sie bestimmt. Den gilt es zu suchen. Sie reist zurück in ihre "Kindergegend", ein Ort im toten Winkel, fernab aller Weltkarten. Ein Salzberg darin, der alle Landschaft überzieht mit dem weißen Staub. Dort hat sie den Einen zu finden und nebenbei die Welt zu retten. Ob es Hoffnung gibt – ob es den Einen wirklich für sie gibt – wer weiß das schon?
              
Der Provokateur mit den tanzenden Worten
Peter Handke, einer der erfolgreichsten Autoren der deutschsprachigen Literaturszene, provoziert immer wieder und gern. Wird dafür geliebt und verdammt. Zuletzt für die Serbien-Kontroverse, bei der sich Handke auf die Seite der Serben in den Kriegen auf dem Balkan stellte. Eine über Jahre lodernde Diskussion entbrannte, Intendanten setzten sein neuestes Theaterstück ab, Handke verzichtete auf Literaturpreise. Aus dem Gerede kam er nicht.
 
Heute sind es seine durchdringenden Worte, die der 64-Jährige in das hungrige Gehege der Literaturszene wirft, auf daß sie sich die Zähne daran ausbeiße. Weil "die Literatur mit der Sprache gemacht wird, und nicht mit den Dingen, die mit der Sprache beschrieben werden". In diesem Sinne stechen die “Kali“-Worte tief ins Mark. Sind gewebt in straffe und unaufgeregte Sätze. Schweifen umher von einer Idee zur nächsten. Verlassen simple Logik und gezielte Attacken. Packen mit der ernsten Kraft von Fabeln und Mythen. Kreisen noch lange nach zum Klang der Passagen, in jedem Kopf zu einem anderen Rhythmus.
http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab=2&source=/denkmal/internet/107677/index.html
 
http://www.literaturforum.de/forum/neuerscheinungen-und-verlagsprogramme/2302-kali-peter-handke.html
 
Peter Handke: "Kali"
 
Eine Vorwintergeschichte
 
Eine Fantasy-Parodie?
 
Der Kerngedanke dieser 'Vorwintergeschichte' (Untertitel) könnte sein: "Ein Wunder eigentlich, dass so viele von uns am Abend zurück nachhause finden, nicht wahr? ... Ein Wunder eigentlich, wie wenige es sind, die Tag für Tag verloren gehen, nicht wahr?" Sind das Assoziationsfetzen des völlig uncharakterisierten Ich-Erzählers oder der spröden Protagonistin? Es bleibt ein überflüssiges Rätsel, wozu sich Handke hier den Luxus eines Ich-Erzählers leistet, welcher zur Hauptfigur in keinerlei Beziehung steht und eigentlich nur wie eine Überwachungskamera Äußerlichkeiten festhält.
 
In einem geheimnisvollen Handke-Land der Heimatlosen und Entrechteten verschwinden auf unerklärliche Weise die Kinder. Aus der Ferne kommt eine Sängerin, die als "Finderin" symbolträchtig das letzte verlorene Kind wiederfindet. Eine für Handke-Verhältnisse doch recht mysteriöse Fantasygeschichte. Und wer oder was ist nun eigentlich Kali? Ist sie die geheimnisvolle Fremde, die dem Erzähler "Angst macht." Oder ist sie die indische Göttin der Vernichtung und der Erneuerung. Oder verweist der Titel auf den Kalibergbau in einem Land, dessen Untergrund aus Salz besteht. Und hier gibt es "Überlebende des Dritten Weltkriegs, der rund um uns schon seit langem wütet, unerklärt, wenig sichtbar, aber umso böser." Als Handke-Leser muss man hartgesotten sein, das weiß man - aber bisher handelte es sich immer um intellektuelle Provokationen. Wie aber passt nun diese Fantasy-Parabel ins große Handke-Puzzle?
 
Erzählt wird von einer Zeit, "in der so viel möglich war wie vielleicht noch nie, im Bösen und im Guten, und vor allem im Unerhörten." Dieser letzte Begriff verweist uns gar noch in die Überlegung, ob dieser Prosatext womöglich eine Novelle sei, erinnern wir uns doch spontan an Goethes Äußerung im Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827: "denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit." Und doch behauptet jemand in Handkes Text: "Das handelt ja klar von heute." Freilich ist Handkes Stärke die Verklärung des Gewöhnlichen und die Ästhetisierung alles Beobachtbaren. Und dazwischen ein paar Dosen Kulturkritik - aber wie vertragen sich Symbolik und Kitsch? Es mag überraschen, dass sich bei einem Autor wie Handke überhaupt das Kitsch-Problem stellt, aber das Abdriften der Protagonistin in eine Traum- oder Zwischenwelt mutet zumindest bizarr an.
 
Es geht auf den Gipfel eines Kalibergwerks hinauf und hinunter in den Bergwerkschacht. Handke mixt dazu Heils- und Unheilsgedanken, Biblisches, Mythologisches, ja sogar etwas Artus-Sage zusammen, so dass einem Zweifel kommen, ob man sich nun im Niveau ganz oben oder ziemlich unten befindet, denn immerhin entführt uns der Erzähler quasi bis in die Hölle, von der eine Pastorin berichtet: "Eine Hölle ohne Teufel. Eine Hölle ohne Flammen. Eine Hölle ohne Schall und Wahn, erzählbar von niemandem." Das klingt doch auch irgendwie nach Shakespeare: "Life's but ... a tale / Told by an idiot, full of sound and fury / Signifying nothing" (Macbeth V,5). Wir erleben eine ziemliche Ortlosigkeit, die Figuren verschwimmen - alles löst sich auf zu Pathos und Prophetie. Hoffentlich ist das wenigstens Selbstironie, wenn da gegen Ende steht: "Und nun ausgezittert (...) Und auch genug gepredigt, zurück zur Prosa."
 
Die namenlose Protagonistin will ihre "Kindergegend" aufsuchen: "Der Untergrund dort besteht bis in die tiefsten Tiefen aus Salz-Kali. Es soll dort einmal ein großes Meer gewesen sein. Und dieses Salz wird abgebaut." Als sie auf einem Zwischenstop ihre Mutter besucht, erfahren wir zumindest etwas Persönliches: "Ich habe dich nicht gebären wollen." In dem Dorf jenseits des großen Sees nahe dem Salzberg erfährt die Protagonistin von der Pastorin, die Kinder "verschwinden, gehen, jeden Tag mehr, verloren, sind verschollen." Und vor allem ein ganz bestimmtes Kind "muss gefunden werden." Und spätestens ab hier (etwa der Hälfte des Buches) wird die Geschichte eigentlich Handke-fremd.
 
Die Protagonistin gelangt zum sogenannten "Salzherrn" und dessen kleinem Sohn. Handke nennt sie jetzt die "Eindringlingin", die sagt: "Ich weiß, es graut Ihnen vor mir." Und er: "Sie, Frau, verkörpern den Tod." Ein eingefleischter Handkejaner liest doch hier nicht weiter, oder?! Es wird melodramatisch: "wenn wir beide, unser beider Körper, einander lieben, müssen wir sterben." Der Salzherr, auch "Grubenherr" genannt, erzählt, dass im Dorf Flüchtlinge ansässig wurden - und dass vor zehn Jahren das letzte, jetzt vermisste, Kind geboren wurde. Entsprechend heißt die Gegend originellerweise "Toter Winkel". Jedenfalls wird dieses besondere Kind gefunden, und der Text ebbt irgendwie unauffällig aus. Wenn dies eine Parabel sein soll, dann mag Handke wissen wofür - es fehlt aber - bei all dem vielen Salz - die rechte Würze. Vielleicht ist es ja auch eine Fantasy-Parodie, welche den Kitsch zum parabolischen Element überhöht. Und vielleicht ist der Ich-Erzähler auch der oben zitierte Idiot, der mit seiner Geschichte zu keiner Sinnstiftung gelangt.
 
 
Peter Handke: Kali - Eine Vorwintergeschichte
Peter Hanke KaliVor einem Vierteljahrhundert deklamierte Nova in Über die Dörfer: Die Natur ist das einzige, was ich euch versprechen kann – das einzig stichhaltige Versprechen. In ihr ist nichts "aus", wie in der bloßen Spielwelt, wo dann gefragt werden muß: "Und was jetzt?" Sie kann freilich weder Zufluchtsort noch Ausweg sein. Aber sie ist das Vorbild und gibt das Maß: dieses muß nur täglich genommen werden...euer Arbeiten soll ein Wirken sein – gebt etwas weiter. Weitergeben tun aber nur, die was lieben: liebt eines – es genügt für alles. Die Liebe erst ermöglicht die Sachlichkeit. Nur du, Geliebter, giltst. Dich liebend, erwache ich zu mir. Die emphatisch-programmatische Rede, nein: diese Philippika des Poetischen – niemals hat Peter Handke gesellschaftspolitisch konkreteres geschrieben – nahm die Häme von Teilen der Kritik bereits vorweg: Laßt die Illusionslosen böse grinsen: die Illusion ist die Kraft der Vision, und die Vision ist wahr.
 
Novas Vision ist einfach und doch grundlegend: Der ewige Friede ist möglich. Nichts weniger als eine neues Zeitalter phantasiert der Dichter hier (die Anlehnung an den grossen Philosophen ist natürlich beabsichtigt) – und wenn man Handkes Werk genau betrachtet und (grob verkürzend) auf einen Nenner bringen will, so hat er seitdem niemals mehr von diesem "Projekt" abgelassen. Immer suchen Handkes Protagonisten "ihr Glück" in einer anderen als der Allerwelt (Kali) und so sind seine Bücher fortwährende "Versuche" eines Entkommens; in seinen Journalen lesen wir dann die "Selbst(ver)suche" des Dichters (wie wortmächtig diese Bücher doch sind - erhellend und weitend für den Leser; wirkliche Pretiosen).
 
Ein Fehler wäre es, Handke eines Eskapismus zu zeihen – genau das macht er nicht bzw. er macht es nur, um einen Blick hinter die Dinge, die Menschen, die Natur werfen zu können; einen, wie er vielleicht sagen würde, notwendigen Blick. Ein Blick, der uns im Alltag schon längst abhanden gekommen ist; verschüttet wurde vom Unrat des Banalen und Einförmigen. Handkes Prosa ist durchdrungen von einer Sehnsucht nach einer entprofanisierten Welt. Man darf das nicht voreilig mit einer "heilen Welt" denunzieren; von einer verkitschten Weltvision ist Handkes Ideal weit entfernt. Er setzt nicht auf die Unterdrückung mephistophelischer Affekte, sondern auf deren Überwindung. Hinwendung zur Natur im Bewusstsein, hier einen Taktgeber, den Taktgeber, finden zu wollen; nicht Natur als vermenschlichten Kulturraum.
 
Letztlich strebt Handke eine Loslösung von der Abstraktion der Konsum- und Warenwelt unserer Zeit an – hin zu einer wieder "stofflichen" Welt, in dem das soziale Miteinander, das Eingebettetsein in so etwas wie Natur ein "Gesetz" ist; mehr noch: sich sozusagen das Gesetz selber konstituiert und von allen wie selbstverständlich verstanden und gelebt wird.
 
Seit einigen Jahren sind es bei Handke oft Frauen, die zu solchen Reisen in ein neues Zeitalter, eine neue Welt(erfahrung) aufbrechen. In den 70er/80er-Jahren nur sporadisch, wie in der linkshändigen Frau, der bereits erwähnten Nova in Über die Dörfer (auch interpretierbar als die "weibliche Seite" des Rück- und Heimkehrers Gregor), die starken Frauenfiguren in der Abwesenheit, dann jedoch 2002 mit der Abenteuerin und "Finanzfürstin" (aus dem kleinteiligen Deutschland stammend, dem abwesenden ostdeutschen Geburtsland - ist es eigentlich jemandem aufgefallen, dass Handke, der Deutschenhasser, eine Deutsche zur "Heldin" machte?) in Handkes sperrigstem und ambitioniertesten Buch, dem Bildverlust und der kindlichen (kindlichen?) Lucie in der heiteren Märchenerzählung Lucie im Wald mit den Dingsda. So unterschiedlich diese Protagonistinnen auch sind: sie sind Sucherinnen (die Sängerin in Kali ist – konsequenterweise – dann eine Finderin), mit Missionsdrang (freilich nicht im landläufigen Sinne), Reisende zum sonoren Land (Das Spiel vom Fragen), Verlasserinnen des ihnen Bekannten; ohne Aussicht (oder gar Wunsch) auf Rückkehr. Diese Unumkehrbarkeit verleiht Handkes Protagonisten (und Protagonistinnen) eine Aura von Stärke und gleichzeitig Verletzbarkeit; für den Leser bleibt eine Ungewissheit, ein Schwebezustand bis zum Schluss.
 
Mont St. Victoire oder ein Salzberg?Die namenlose Heldin der jüngsten Erzählung Kali, eine Sängerin, (eine Verwandte Novas oder der Finanzfrau aus dem Bildverlust?) beendet an einem Vorwintertag ihre Konzertsaison, fährt zu ihrer Mutter, begegnet einem Mann, besucht mit ihm eine Kali-Grube (Salzbergwerk) und am Ende findet sie wie zufällig, unbeabsichtigt, das verlorene, verschollene, das einzige Kind und es endet in mit einem grossen Fest und sie entrinnt durch die Liebe dem sicher geglaubten Tod (Überwindung einer Depression? Ja, vielleicht).
 
Der Plot gibt naturgemäss nicht die Filigranität der Erzählung wieder. Wie so oft wird bei Handke das scheinbar Nebensächliche zur Hauptsache herbeiphantasiert, zur Hauptsache gemacht. Im Nebensächlichen ist das zu finden, was man, pathetisch ausgedrückt (ja, gelegentlich wird es auch pathetisch), die Verbundenheit mit der Welt nennen könnte; freilich einer Welt, die eine andere ist, als die uns gemeinhin umgebende.
 
Nichts Aktuelles soll in dieses Haus. Immer ging es mir um ganz anderes als die Aktualität. Schon zu meiner Zeit kam mir vor, als würde sie, die verfluchte Aktualität, alles andere, was nicht sie ist, auffressen. Und inzwischen: als sei das Leben außerhalb der Aktualitäten nicht mehr der Rede wert, sei mit keinem Blick mehr zu würdigen, sei kein Gegenstand, keine Sache, kein Thema mehr, dürfe nicht mehr Leben oder Das Leben heißen. [...] Das Leben, es gilt bei euch draußen nicht mehr. Ihr habt das Leben, das einzige große, für null und nichtig erklärt, von euren Tischen gewischt, mitsamt den Tischen. Wie hieß doch einmal ein Satz der Sätze, in den Evangelien oder wo, und hieß so in der Folge immer wieder?: Das Leben ist erschienen. Und jetzt: Das Leben ist verschwunden? Das Leben hat verloren? Ihr glaubt, ich erkenne euch nicht? Ihr bildet euch ein, ich sei blind für euer Treiben?
 
So spricht die Mutter der Sängerin. Und später, als sie dann den Ort des Kalibergwerks erreicht hat, den grossen Salzberg vor Augen, (das Ziel? Der Salzberg ist Handkes Mont St. Victoire?), lässt Handke die Pfarrerin (wieder eine Frau!) sagen:
 
Wenn ich für mich bin, mit den Büchern hier, auch ohne sie, ist immer alles voll Sinn, warm von Sinn, heiß, kochheiß. Aber draußen dort und ebenso drinnen dort: weg, verpufft. Allgemeiner Unsinn. Unsinn, der kann ja lustig sein und fröhlich stimmen. Aber der Unsinn dort draußen ist lau und flau. Für meine Generation gibt es nichts Höheres mehr. Und je mehr das trotzdem behauptet wird, desto mehr wird noch der letzte Rest davon vernichtet. Existiert das denn überhaupt noch, eine Generation? Eine Generation im Aufbruch? Eine Pioniergeneration? Oder meinetwegen auch eine verlorene Generation? Eine verkaufte? Eine verratene? Nichts da. Meine sogenannte Generation, und genauso die vor mir, die vielleicht noch schlimmere, die der noch nicht so recht Alten, die auch nie so recht alt sein werden, wir und die, wir richten nichts als Unheil an in den lieben Welt, und das nicht einmal durch unser Tun und Lassen, sondern durch unser bloßes Dasein. Allein durch die Art unseres Daseins, ständig voll da, ständig in der Überzahl, ist unsereiner eine Beleidigung allein schon für das Auge...
 
Und in dem die Figuren derart ins Reden kommen, erzählen sie sich die Allerwelt (zum letzten Mal sei dieses Wort benutzt) vom Leib. Die Reden sind Beichte und Reinigung, Selbstvergewisserung und Schwur; Kali ist mehr ein dramatisches Gedicht als eine Erzählung; ein Theaterstück – ja vielleicht die Fortschreibung von Über die Dörfer? Der Erzähler, der "Verfolger" der Sängerin, oft genug sie suchend, mehr ein Beschreiber als ein Erzähler; ein Ins-Bild-Setzer und wesenhaft einem guten (einem guten!) Radioreporter ähnlich: Sein Schildern ermöglicht die Teilhabe; beflügelt die Phantasie (auch dann, wenn das Verschüttete aus dem dunklen Salzbergwerk allzu metaphernschwer daherkommt; ein seltener Moment im ansonsten so schön luftigen Buch).
 
Spielte der Bildverlust noch (vordergründig?) in fiktiven Orten in der spanischen Sierra de Gredos – allerdings in einer nicht definierten Zeit -, so gibt es in Kali eine bewusste Zeit- und Ortlosigkeit. Das sonore Land (?), der Salzberg – die Verirrten, Versprengten, Flüchtlinge (welch' eine Rede auf [auf!] Flüchtlinge!) - ewig Schiffbrüchige - sie sind Überlebende des Dritten Weltkriegs und doch, wie selten bei Handke (noch nie derart?) der Trost (kein "billiger Trost", kein "Friede, Freude, Eierkuchen [Andreas Isenschmid in "Kulturzeit"]): das Sprachengewirr der Bergleute ist nicht babylonisch-verwirrend, sondern die Worte werden plötzlich so weit vom Himmel weg - im Bergstollen - sonnenklar; der ewige Friede wird vom Zeitungsjungen wenigstens als Schlagzeile gerufen (in der Zeitung steht es dann doch anders); das Wünschen hat geholfen und am Ende, in der Kirche, die Verwandlung (ein zentraler Topos von Handke), die Pastorin vor dem Volk (ohne Kanzel):
 
Ich habe es gewusst. Alle die Äpfel auf dem Gartentisch beim ersten Blick aus dem Fenster am Morgen, und ich bin da. Und es ist da. Ich und es sind da. Das Leben ist neu erschienen. Die Träume sind zurückgekommen: Schaut, schaut – hört, hört. Nach all dem Schrecken, dem Grauen: wie sehe ich klarer, wie höre ich besser. Unser Geschichte: aufzugeben? Ausgeträumt? Nein, ich gebe die Geschichte nicht auf. Sie weiterträumen. Ereignete sich denn nicht jener eine göttliche Augenblick in ihr, und ereignet sich der nicht immer wieder, und das ist die wahre Geschichte?
 
Und dann, im toten Winkel (keine Enklave oder erst recht eine?) heisst es Weg von den Dramen. Weg auch von den Liedern. Und auch genug gepredigt... und es beginnt das Erzählen – und das Buch endet.
 
Kali ist kein Buch, den notorischen Handke-Ablehner zu befrieden. Das hatten in den 90er Jahren einmal kurz die Versuche geschafft (insbesondere der Versuch über den geglückten Tag). Dem Handke–Adepten setzt es das Werk fort; ein Kontinuum. Die Anspielungen auf vergangene Bücher sind zahlreich und fruchtbar und werden erneuert und erweitert. Relativ neu ist die tröstliche Aussicht, die das Buch am Ende verströmt – die Verwandlungen geschehen und sind nicht nur möglich.
 
Viele Rezensenten überinstrumentalisieren das Buch mit dem Verweis auf die indische Göttin Kali. Wenn dem so wäre, müsste man von einem mindestens ambivalenten Bildgebrauch Handkes sprechen, denn allzu stark ist die Erlösungs- und Verwandlungsmetaphorik des Christentums in diesem Buch präsent. Handkes Hinwendung zu religiösen Bildern (nicht nur des Christentums) – stetig zu beobachten seit Mein Jahr in der Niemandsbucht 1997 – ist zwar unverkennbar, aber eine spirituell aufgeladene Sinnsuche ist von Handke weder beabsichtigt noch gewünscht.
Gregor Keuschnig - 2007-02-14 16:11
http://begleitschreiben.twoday.net/stories/3320688/
 
Ein paar Gedan¬ken zum Buch, inspi¬riert durch die Kri¬tik im Deutsch¬land¬funk, durch eine Sen¬dung im DLF wurde ich auch auf das Werk aufmerksam.
 
Die erste Frage wäre die nach Assi¬zia¬tio¬nen zum Titel, Kali. Kalium-Salz ist eine Mischung ver¬schie¬de¬ner kali¬um¬hal¬ti¬ger Salz¬ver¬bin¬dun¬gen, Haupt¬ver¬ar¬bei¬tung erfolgt zu Dün¬ger. In der Geschichte ist der weiße Salz¬berg das Ziel der Reise der Prot¬ago¬nis¬tin, sym¬bol¬haft steht das Salz für Reich¬tum (Arbeits¬plätze, Geruch¬lo¬sig¬keit) und Zer¬stö¬rung (Gemälde in der Kir¬che lei¬den, gerö¬tete Augen) zugleich. Die hin¬du¬is¬ti¬sche “schwarze” Göt¬tin Kali von Tod und Zer¬stö¬rung zielt eher auf die weib¬li¬che Haupt¬fi¬gur ab. Sän¬ge¬rin und Ver¬füh¬re¬rin der Mas¬sen, bringt sie Tod all denen, die sich mit ihr ein¬las¬sen. Aber Kali ist auch eine phil¬ip¬pi¬ni¬sche Kampf¬sport¬art, bei wel¬cher die Abwehr von Angrif¬fen mit Stock und Mes¬ser im Vor¬der¬grund steht. Die¬ses Motiv wird durch den Vor¬win¬ter¬wind im Buch auf¬ge¬grif¬fen, wel¬cher die töd¬li¬che Gefahr abwen¬det. Schon der Titel ist viel¬deu¬tig, und die¬ses Vage, Unbe¬stimmte zieht sich durchs ganze Buch.
 
Eine Schlüs¬sel¬stelle ist die, wo eine Pfar¬re¬rin gegen die Gleich¬gül¬tig¬keit wet¬tert, mit der heute Böses geschieht. Die Stelle ist des¬halb wich¬tig, weil da viel von Handke selbst mit¬schwingt, dem ent¬täusch¬ten 68er. Von die¬ser Resi¬gna¬tion ist ein gro¬ßer Teil des Buches betrof¬fen, unaus¬weich¬lich nähert sich die Prot¬ago¬nis¬tin dem wei¬ßen Salz¬berg und damit ihrem Tod. Denn so hat sie es ein¬mal aus¬ge¬spro¬chen, also muss es auch so gesche¬hen. Doch es kommt anders, die Ret¬tung vor die¬sem tris¬ten Ende weht in Form des Vor¬win¬ter¬win¬des heran, der vom Salz¬herrn gehört und ver¬stan¬den wird. Dem¬ent¬spre¬chend ist das Ende des Buches dann hoff¬nungs¬voll, die Welt wird geret¬tet, das ver¬misste Kind von der Frau gefun¬den, ein Fest gefei¬ert mit allem, was dazu gehört.
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literaturkritik.de » Nr. 3, März 2007 » Deutschsprachige Literatur
 
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Poetische Grenzgänge
Peter Handkes Vorwintergeschichte "Kali"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
 
Der mittlerweile 64-jährige Peter Handke liebt die Extreme. Mit seinem umfangreichen literarischen Werk und seinen spektakulären öffentlichen Auftritten hat er stets - und dies bewusst - polarisiert. Als junger Mann brüskierte er in den 60er Jahren die arrivierte Literatengilde der Gruppe 47 bei der Tagung in Princeton und attestierte der Nachkriegsliteratur eine "Beschreibungsimpotenz". Der (auch literarisch) zur Egozentrik neigende Handke pflegte sein Image des "enfant terrible" über Jahrzehnte hinweg nach Kräften. Zuletzt erregte er reichlich Aufsehen durch seine Verteidigung des serbischen Diktators Slobodan Milosevic, die 1996 mit seinem Buch "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" begann und im März des letzten Jahres mit seiner Rolle als Redner auf der Beerdigung des Politikers ihren Höhepunkt fand. Wenige Monate später verzichtete er wegen der öffentlichen Kritik an seiner Person auf den ihm zugesprochenen Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf.
 
Peter Handke hat auch in den meisten seiner Bücher die Rolle des Außenseiters wortgewaltig kultiviert. Er war nie ein Erzähler im konventionellen Sinn, sondern ein reflektierender Suchender und Beobachter, der das Medium Sprache als Heiligtum pflegt.
 
Von den sezierenden Blicken auf Innen- und Außenwelten handelt auch sein neues Buch "Kali". Aus dem "Off" wird mit akribischer Sorgfalt von den kleinen Veränderungen berichtet. Alles befindet sich im Fluss, in einem permanenten Übergangsstadium. Die Grenzen zwischen Heimat und Fremde, Kunst und Leben, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Schlaf und Traum und Bleiben und Gehen verschwimmen auf kunstvolle Weise. Eine wortkarge, introvertierte Sängerin ("Ich habe Angst vor mir selber.") serviert ihre Verehrer auf kühle Weise ab. Für einen Taxifahrer und einen Musiker, der später aus Zorn sein eigenes Instrument zertrümmert, hat sie mit ihrem Gesang die letzte Wärme vor der Winterpause vermittelt. Die (wie alle anderen Figuren) namenlose Künstlerin, die von der Beobachteten auf der Bühne zur Beobachterin eines Kinofilms mutiert, erklärt einem ihrer Verehrer lakonisch, dass die Liebe der Frauen schrecklich sei. Handelt es sich um die gleiche Frau, die beim Besuch der Eltern erfährt, dass sie ein "ungewolltes Kind" war? Ist es auch die Sängerin, die in einem geheimnisvollen, verkohlten Buch liest?
 
"Spuren der Verirrten" heißt Peter Handkes neues Theaterstück, das unter der Regie von Claus Peymann am 17. Februar in Berlin uraufgeführt wurde. Mit eben jener Spurensuche beschäftigt sich auch diese "Vorwintergeschichte", in der nicht nur die Omnipräsenz des Schnees empfindliche Kälte ausdrückt. Eine erschreckende emotionale Kälte prägt auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Und die gigantische, auf dem Cover abgebildete Kalihalde taucht immer wieder als eine Art gespenstisches erzählerisches Bühnenbild auf.
 
Wie in vielen Vorgängerwerken neigt Handke bisweilen auch wieder zur Überpoetisierung. Er lässt Satelliten in Regenlachen des Asphalts blinken, und am Himmel "fliegt ein Rabe mit einem gelben Tischtennisball - oder ist es ein Stück Kuchen?" Mit dieser exaltierten Form der "Wahrnehmungsprosa" wandelt Handke auf einem sehr schmalen Grat zwischen Kunst und Beschreibungskitsch.
 
"Kali" ist ein seltsam ruhig erscheinendes Büchlein, nicht mehr als ein Nebenwerk in Handkes Œuvre, ein hübsch arrangiertes literarisches Intermezzo.
 
 
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10488&ausgabe=200703
Peter Handke: Kali
Handkes Ruf als hervorragender Autor ist allen Unkenrufen zum Trotz immer noch intakt. Sein neuestes Erzählwerk spielt im Jetzt, im Hier - und doch nicht, denn es ist befasst mit den Überlebenden des Dritten Weltkrieges.
 
"Kali" eine Rezension von Andreas Isenschmid NZZ
 
Peter Handke habe ein Erzählwerk über Überlebende des Dritten Weltkriegs geschrieben, las man - in etwas anderen Worten - in der Ankündigung des Suhrkamp-Verlags und horchte auf. Denn für Kriegsfragen ist Handke seit seinem obstinaten Eintreten für die serbische Seite im jugoslawischen Bürgerkrieg sozusagen Spezialist, ein anrüchiger indes. Noch im letzten Jahr hat ihn seine einschlägige Parteinahme den angesehenen Heine-Preis gekostet. Immer wieder hat er auch in seine bisherigen Romane Kriegslärm hineinklingen lassen. Wie würde er es wohl dieses Mal angehen? Sollte er seiner politischen Publizistik einen aktuellen politischen Roman nachsenden?
Handkes «Vorwintergeschichte» (so der Untertitel) mit dem rätselhaften Titel «Kali» spielt tatsächlich im «Jetzt und Jetzt, im Hier und Hier». Sie beginnt mit einem Konzert in einer Grossstadt, die «eine heutige Allerwelt darstellt» samt Leuchtreklamen, Kinos und Teletext, und endet in einer Bergarbeitersiedlung, deren Arbeiter seit jeher Flüchtlinge aus aller Welt waren. Neuerdings aber laufen die Dinge aus dem Ruder. Das schildert Handke mit der Genauigkeit eines Sozialreporters.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts seien die Flüchtlinge im Bergwerksdorf heimisch geworden und hätten Arbeit im Kalisalzbau gefunden, berichtet der Leiter des Bergwerks. «Aber die Flüchtlinge dieses neuen Jahrtausends werden ganz und gar nicht mehr heimisch. Und sie kommen inzwischen aus sämtlichen Erdgegenden . . . Die heutigen Flüchtlinge bleiben ganz unter sich. Und unter sich heisst nicht untereinander. Denn sie stammen von Tür zu Tür, und das innerhalb der Häuser, aus grundverschiedenen Weltregionen, verstehen die Sprache des Türnachbarn nicht, verstehen auch von der hiesigen nur ein paar Floskeln . . . Sie sind auf Dauer unter Schock . . . Sie sind auf ewig Schiffbrüchige . . . Manchmal scheint mir, sie sind die Überlebenden des Dritten Weltkriegs, der rund um uns schon seit langem wütet, unerklärt, wenig sichtbar, aber umso böser. Sicher ist: Sie sind Überlebende und haben in ihrem Überlebenskampf jede Lebenskraft verloren.»
Realistisch und traumhaft
Das klingt wie eine klassische Sozialreportage aus der Feder George Orwells. Hat Handke den Weg aus der poetischen Imagination in einen aufklärerischen Realismus gefunden? Keine Sorge. Handke ist nicht nur er selbst geblieben, er ist in seinem neuesten Buch sogar noch etwas handkescher geworden als etwa in seinem Roman «Der Bildverlust». Die realistische Genauigkeit steht in «Kali» oft neben traumhaft Undeutlichem und Rätselhaftem wie Büschen, die sich ohne einen Windhauch wiegen. Und manchmal gehen die verschiedenen Sphären auch direkt ineinander. Die eben noch so heutig geschilderten Bergarbeiter beginnen auf der nächsten Seite zu beten, wie nirgendwo auf der Welt ausser bei Handke gebetet wird, «indem sie zum Beispiel die Finger spreizen oder mit einer Zehe wackeln. Der eine betet, indem er an einer Zigarette zieht. Die nächste betet, indem sie kochendheisse Milch in einem fort umgiesst von einer Tasse in die andere.»
So ist dieses Handke-Buch noch ein bisschen weniger von dieser Welt als die bisherigen. Der Erzähler ist ein Träumer, die Heldin eine heiligmässige Sängerin, die Handlung führt aus der Stadt ins Dorf, aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft, aus Tod und Angst in Leben und Freude, es ist mit andern Worten eine Erlösungsgeschichte; alles in «Kali», selbst die Orte, stammt aus einem anderen Reich. Aus welchem? Das glaubt man immer wieder zu erhaschen und weiss es doch bis ans Ende der Geschichte nie genau zu sagen - wofür man Handke allerdings aus zwei Gründen dankbar sein sollte. Erstens gibt es zu viele Bücher, bei denen man nach zwanzig Seiten weiss, wie der Hase läuft. Zweitens gehört Handke zu den wenigen Autoren, die verrätselte Wirklichkeit gestalten können. Er muss weder esoterisch quasen noch pseudoexperimentell labyrinthisieren. Er verfügt über eine unangestrengte poetische Gangart, die in den Einzelheiten leuchtend hell und schön, im Ganzen aber dunkel und verwehend sein kann.
Gottesdienst
Hier spalten sich nun die Leser und Kritiker. Die einen beraunen freudig den mythischem Raum, den man kaum nacherzählen könne, und verdoppeln Handkes Rätselei. Die andern ächzen unter brokatener Langeweile und beklagen sich, nichts nachvollziehen zu können. Beide tun so, als könne man Handke nicht so lesen wie den auch ziemlich rätselhaften Hölderlin. Dabei hat dieser neue Handke gerade mit Hölderlin mehr als nur ein bisschen zu tun. Wie oft auch bei Hölderlin ist die Hauptgestalt der Dichtung ein Dichter, bei Hölderlin meist Sänger genannt, in Handkes Fall eine Sängerin. Hölderlinisch ist das Thema: das Verhältnis der Sängerin (und also der Dichtung) zum Volk. Gut hölderlinisch schliesslich die Anlage der Geschichte. Sie beginnt in einer kriegerischen «Zwischenzeit, Schreckenszeit, Zeit der Verlorenheit». Der Sinn hat sich zurückgezogen, die Götter sind unsichtbar geworden, die Menschen der Vereinzelung anheimgefallen, Höheres erfahren sie nur noch im dichterischen Wort. Das Wort der Sängerin kommt beim Erzähler an «als ein Gerufenwerden wie keines sonst». Ihr Fahrer gesteht: «Ihre Musik hat mein Wir neubelebt. Wir, ja, wir sind von Ihren Konzerten gemeinsam weggegangen.» Auch die Sängerin selbst, eine begnadete Finderin, bestimmt sich übers Verhältnis zum Wort. Ihres hat nämlich die fast göttliche Macht, von der die Dichter durch die Jahrhunderte geträumt haben: Was sie sagt, muss wirklich werden. Sie wird ihrem Liebsten die Liebe aussprechen, aber mit ihr, da er sie «zum Sterben glücklich» macht, auch den Tod.
Als die Sängerin nach einer langen Reise hinter ihr Kinderland zurück im Bergwerksingenieur ihre Liebe trifft, kommt es freilich anders. In der Tiefe des Salzbergwerks (wie bei Stendhals berühmtem «rameau de Salzbourg») kristallisiert die Liebe die beiden so zur Einheit, dass Freude und Leben die Angst und den Tod in die Flucht schlagen. Am Schluss stehen ein Fest und ein Gottesdienst, in dem alle Verlorenheit aufgehoben ist und die Sängerin - dem Volk nun nicht mehr gegenüber, sondern mitten unter ihm - gefunden hat, was der zersplitterten Gemeinschaft gut christkindlich das Wichtigste sein wird, ein lang vermisstes Kind.
So nacherzählt klingt das natürlich schrecklich pathetisch und verblasen - aber so erzählt Handke es ja auch nicht. Er gibt uns die starke Vision einer hymnisch aufgeladenen Sängerin durch die schwachen Augen eines mehr tastenden als zugreifenden Dichters. Manches von seinem Sujet verliert der Erzähler immer wieder aus den Augen, manches hört er nur, anderes sieht er nur indirekt. Vom stärksten Bild der Dichtung gibt er uns eine verwitterte Zeichnung, die wir wie Archäologen erst entziffern müssen.
Ist Handke sein doppelbödiges Spiel um die Macht der Dichtung gelungen? Hier zögert auch der rettungslos liebende Handkeaner, der hier schreibt. Er liebt diese Geschichte, solange sie schwebend vorangeht, dann hat sie die persischen Farben und duftigen Veduten eines sehr guten Handke. Er verliert sie, wenn sie stockt oder mit grossem Gestus Fäden auslegt, die sie nicht wieder aufnimmt. Und sie ärgert ihn, wenn sie, zumal gegen Ende, Friede- Freude-Eierkuchen-mässig ausspricht, was sie nur ansprechen sollte.
anaximander - So, 11.02.2007 19:37 - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks - 2 Kommentare
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walhalladada - 11. Feb, 19:49
Höchste Zeit,
wieder einmal 'Danke' zu sagen!
antworten
 
anaximander - 11. Feb, 22:02
Aber bitte gern,
Dr. Schein :-)
Es drängt sich auf, Sicherheitskopien anzulegen, weil gute Rezis wieder verschwinden und zahlpflichtig werden...
 
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