MORAWISCHE NACHT

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GERMAN AND FIRST AMERICAN REVIEWS WILL BE POSTED IN JANUARY 2009

 

 

 

I have put a rather
long piece, a kind of pre-review, on
Morawian Night at:

 

 

 


THIS WAS THE ORIGINAL COVER FOR WHAT BECAME 'MORAWISCHE NACHT'"/ MORAWIAN NIGHT, SINCE HANDKE WENT ON WRITING, IT TURNS OUT THAT FOR WHATEVER REASON HE THEN STOPPED SHORT OF DELIVERING A WELL FORMED BEE-HIVE... AS HE CERTAINLY COULD HAVE. DOMAGE  

 Informationen über das Buch

Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
561 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518419502

Rezensionen in literaturkritik.de
Ein Spiel? Der Wolf im Schafspelz
Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht"
Von Peter Mohr
Ausgabe 02-2008
Andere Rezensionen
Angaben nach Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA):

Michael Braun: Heimweh nach Gott
Literaten und Glaube. Wie viel Spiritualität kommt in den Werkenzeitgenössischer Autoren vor? Es ist mehr, als der erste Blick zeigt.Religion wurde im Prozess der Säkularisation weithin zu ästhetischenErfahrungen umgeformt
Rheinischer Merkur, 20, Christ und Welt, Donnerstag, 15. Mai 2008, S. 26

Volker Weidermann: Ich weiß, was wir in diesem Frühling gelesen haben werden
What's hot, what's not in der schönsten Jahreszeit der deutschen Literatur?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9, Feuilleton, Sonntag, 2. März 2008, S. 25

Andreas Breitenstein: Handke, reloaded
Neue Zürcher Zeitung, 21, Feuilleton, Samstag, 26. Januar 2008, S. 27

Markus Gasser: Kaum der Rede wert
Peter Handke schreibt in seiner Erzählung "Die morawische Nacht" sehr schön über die Liebe. Was bleibt sonst von ihm?
Die Weltwoche, 4, Keine Angabe, Donnerstag, 24. Januar 2008, S. 64-65

Wolf Scheuer: Umkehr vom Irrweg
Peter Handke. Österreichs berühmtester zeitgenössischer Autor hat dasRentenalter erreicht. In einer Art Lebensbilanz geht er nun mit sichselbstkritisch ins Gericht und lässt Gnade walten.
Rheinischer Merkur, 3, Literatur, Donnerstag, 17. Januar 2008, S. 21

Andreas Breitenstein: Die grosse Versöhnungstour
«Die morawische Nacht» - Peter Handke zieht eine selbstironische Bilanz (s)eines Dichterlebens
Neue Zürcher Zeitung, 11, Feuilleton, Dienstag, 15. Januar 2008, S. 25

Ulrich Weinzierl: Prinz von Nirgendwo
Die Welt (Die literarische Welt), 2, Das Buch der Woche, Samstag, 12. Januar 2008, S. 3

Thomas Steinfeld: Ein dunkler Morgen, wie geschaffen zum Aufbrechen
Einen solchen Peter Handke gab es noch nicht: Die "Morawischen Nacht" ist die Erzählung einer rigorosen Selbstprüfung
Süddeutsche Zeitung, 10, Literatur, Samstag, 12. Januar 2008, S. 17

Helmut Böttiger: In den "Wellen eines andersstillen Ozeans"
Zitternde Sekunden - Peter Handkes neues Epos "Die morawische Nacht", das vorläufige Resümee eines Lebens im Schreiben
Stuttgarter Zeitung, 9, Das Buch, Freitag, 11. Januar 2008, S. 35

Meike Fessmann: Gebt mir ein Menschengesicht
Abschied von der öffentlichen Streitperson: Peter Handkes große Erzählung "Eine morawische Nacht"
Der Tagesspiegel, 19782, Kultur, Freitag, 11. Januar 2008, S. 22

Iris Radisch: Die Geografie der Träume
Peter Handke erzählt in seinem neuen Buch "Die morawische Nacht" das große Zaubermärchen seines Lebens
Die Zeit, 3, Literatur, Donnerstag, 10. Januar 2008, S. 43

Martin Krumbholz: Vom Verschwinden der Vorurteile
Auch in der Totaldefensive ist noch Furor: Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht"
Frankfurter Rundschau, 5, Feuilleton, Montag, 7. Januar 2008, S. 19-20

Daniela Strigl: Das Zittern der Sekunden
Der Standard, 5768, Kultur, Montag, 7. Januar 2008, S. 17

Volker Hage: Der übermütige Unglücksritter
In der Erzählung "Die morawische Nacht" zieht Peter Handke das Fazit eines Dichterlebens.
Der Spiegel, 2, Kultur, Montag, 7. Januar 2008, S. 140-142

Volker Weidermann: Weg von hier, hinüber in die Welt!
Peter Handke verabschiedet sich vom Balkan
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1, Feuilleton, Sonntag, 6. Januar 2008, S. 19

Hubert Spiegel: Der Prinz von Nirgendwo
Sein Balkan ist nicht mehr von dieser Welt: Mit der langen Erzählung"Die morawische Nacht" wendet sich Peter Handke der eigenenVergangenheit zu und läutet gelassen sein Alterswerk ein.
FAZ (Bilder und Zeiten), 4, Literatur, Samstag, 5. Januar 2008, S. Z5

Thomas Steinfeld: Als ich Autor war
Peter Handke, Frankreichs Medien und die morawische Nacht
Süddeutsche Zeitung, 294, Feuilleton, Freitag, 21. Dezember 2007, S. 11



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eter Handke
Vom Verschwinden der Vorurteile
VON MARTIN KR
 
Es ist Zeit, Frieden zu machen. Keinen Funken Provokation enthältHandkes heute erscheinendes Epos "Die morawische Nacht", obwohl es dochwieder einmal ein Buch über den Balkan ist - den Balkan, der imGeburts- und Sterbeort der Mutter des Erzählers beginnt, ein Dorf, dasin Kärnten liegt und von dem es heißt, es sei "balkanisch angehaucht".

Ein anderer Autor, zitiert gegen Ende des Buchs, habe auf dieZeitungsfrage, welche Dinge ihm zuwider seien, die kyrillische Schriftgenannt, "und das konnte man ihm nach dem, was ihm, seinem Volk undseinem Land unter dem Banner dieser Schrift widerfahren war, auchnachfühlen".

Fairer und friedfertiger kann ein Schriftsteller nicht sein. OhneIronie kommt Handke aus, nicht nur an dieser Stelle, Ironie ist ihmohnehin eher fremd - er meint, man offenbare mit ihr nur seineVerletztheit -, und, wie stets, ohne Kausalsätze, ohne Weil, Darum undDenn. Handkes Prosa beschwört das Offensichtliche und das, was mansehen kann, wenn es einem denn gegeben ist, zu sehen: die "niegesehenen Farben", "unerhörten Geräusche".
 
 
Das Buch
Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 561 Seiten, 28 Euro.
Wo sonst könnte man heute noch solche Sätze lesen: "Nicht einmal derTau, während der Nacht in den sichtlich frischgepflanztenStraßenrandbäumchen angesammelt und in der Morgensonne wie ein Segenaus den Blättern sprühend, in einem Strahlenkranz aus allenRegenbogenfarben, gab ihm Asyl, oder winkte ihn weiter."

Seit jeher ist es Peter Handke um die Unmittelbarkeit der Anschauunggegangen, um die Dinglichkeit, um das Einzelne und Vereinzelte, undnicht um die pauschalen wertenden Reflexe. "Verschwinden derVorurteile: wie kaum etwas sonst erzählenswert." Es ist einer derSchlüsselsätze seiner Poetik. Wer aber ist dieser asylsuchende "Er",von dem das Epos handelt? Er hat keinen Namen, wird als ehemaligerAutor bezeichnet, der, auf dem Weg zu einer Art "Nationalautor", dasSchreiben aufgegeben habe und sich nun mit dem mündlichen Erzählenbegnüge.

Man darf unter dieser Tarnkappe durchaus ein Alter Ego desSchriftstellers Peter Handke vermuten, wobei der Rahmen der Erzählungganz und gar fiktiv ist: Der Erzähler (der im Text als solcher nichtfirmiert) hat eine Schar von Freunden und seine, "hm", Lebensgefährtinauf sein Hausboot gebeten (oder vielleicht noch eher: befohlen), das amUfer der Morawa liegt, einem Nebenfluss der Donau in einer serbischenEnklave, und erzählt eine Nacht lang von einer europäischen Rundreise,die eine Art Erinnerungstournee ist, ihn unter anderem nach Dalmatien,nach Spanien, in den Harz, nach Wien, nach Kärnten führt; Etappenziele,die mit handfesten Überraschungen aufwarten: einer ökumenischen odermultikulturellen Krypta im Kärntner Geburtshaus, wo sich Einheimische,Fernfahrer und muslimische Immigranten zum je unterschiedlichen Gebetversammeln; einem kosmopolitischen Maultrommlertreffen am Stadtrand vonWien; einer Jugendliebe, die zur Streunerin mutiert ist…

Ganz entschieden ist dieser Tarnkappenmensch, ob er nun zu Fuß, im Zug,auf dem Traktor oder auch im Flugzeug reist, ein letzterIndividualreisender im Zeitalter des Pauschaltourismus - so individual,dass es auf die dem Pragmatischen verpflichteten Interjektionen einesnotorischen Zwischenfragers unter seinen Zuhörern meist nur einAchselzucken anstelle einer Antwort gibt.

Wer diesen großen und großartigen Text wieder nur auf verräterischeSpuren des üblichen politischen Verdächtigen hin befragt, wird nichtnur enttäuscht, sondern geradezu beschämt werden. Nicht nur, weildieser Erzähler mit niemandem schonungsloser verfährt als mit sichselbst.

Das Streitobjekt "Balkan" entpuppt sich in aller Deutlichkeit alsChiffre, und eben nicht für ein begrenzbares politisches Spannungsfeld."Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um dasverschwundene Numancia in Altkastilien gewesen, als dort einzerrissener blauweißer Plastiksack an einer Blaudistel hing und im Windknisterte. Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock,der sich bei einem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochenhatte, im deutschen Harz.

Die Schmetterlingspaare in der Sonne, wie sie einander wo auch immerauf der Reise durch Europa auf engstem Raum umtanzten: all das warschon im voraus der Balkan." Mit anderen Worten: Der Balkan ist nichtnur ein Überall, er ist vor allem der utopische Fleck, an dem sich dasDasein exemplarisch verdichtet, "Einsprengsel in der Zeit", "Inselchen,Inselmomente".

Spürbar - müßig, hier nach Ursachen zu forschen - ist dieses Buch ausder Defensive heraus geschrieben, nicht nur politisch - die Serben (siewerden nicht einmal beim Namen genannt) stehen auf verlorenem Posten,geben ihre letzten Enklaven auf -, sondern auch literarisch,poetologisch. Einmal tritt unterwegs ein flinker Schreiber auf,Melchior genannt, der der "Dichterliteratur" den Marsch bläst. "Weg mitdem Traum vom Schreiber als Urheber", verkündet er, gibt sichunverhohlen als Parasit zu erkennen und propagiert ein Schreiben alsbloßes "Arrangieren".

Scheußliche Floskeln führt dieser Feindselige im Mund wie"zweifelsohne" oder "kein Thema" (und, klar, er schreibt in Zeitungen).Auch in der Totaldefensive ist Handkes Furor beachtlich. Was dasFrauenthema betrifft, ist es ja nichts Neues, dass dieserBedauernswerte an der Unvereinbarkeit von Ehe und Schriftstellertumlaboriert; wieder muss er sich von einer Schönen als Muttersöhnchenbeschimpfen lassen, daran (auch an den jähen Gewaltattacken) hat sichseit dem "Kurzen Brief zum langen Abschied", und das war vor 35 Jahren,nicht das Mindeste geändert.

Aber: Einmal, im Zug in Österreich, und das ist eine wunderbareEpisode, trifft der Autor auf eine junge, blutjunge Leserin, "falscherBrillantknopf an einer Nasennüster", die ihn erkennt, sich als seineLeserin zu erkennen gibt. Nicht nur aufmerksam liest sie, sondern ernstund erheitert zugleich: "Das war dir einmal eine Leserin!" Und dannalso rückt sie ihm auf die Pelle, "Ich kenne Ihre Bücher",ausnahmsweise ist dem Schriftsteller das nicht einmal lästig, auchnicht, dass sie ihn im Eifer des Gefechts "auf den Oberarm und gegendie Brust boxte, ihm ein Haar vom Mantel klaubte, dort an einem derKnöpfe drehte…" Und das im unglückseligen Austria! Wahrlich, es istnoch Hoffnung.
ITERATUR
Triumph der Sprache
Das Bücherjahr 2008 startet mit einer Sensation: dem fulminanten Erzählwerk „Die morawische Nacht“ von Peter Handke
Von FOCUS-Redakteur Stephan Sattler
 
Kämpferischer Ich-Erzähler
Ursprünglich als eine „Erzählung“, also als etwas Kurzes,Übersichtliches angekündigt, kommt das Buch als ein 561-Seiten-Werkdaher, abschreckend umfangreich. Beim Lesen aber – der unwiderstehlicheEindruck: Hier hat man es mit einem Buch von solcher Wucht, von solchgewaltigem Bildreichtum und Sprachvermögen zu tun, wie man es bei PeterHandke höchstens noch in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994) – wennjemals – erleben konnte.

Also doch ein Roman? Nein, die Überraschung liegt darin, dass man aufeinen in unserer Zeit kaum mehr vermuteten, poetischen Text eigenerForm stößt. Handke schreibt nicht den „Roman unserer Gegenwart“. Soetwas wie Philip Roths „Der menschliche Makel“ liegt ihm fern. Keinpolitisches Wort fällt auch im Namen von „Gerechtigkeit für Serbien“.Worum er ringt, ist das fugenlose Ineinander von wahrer Empfindung undunverstelltem Sprachausdruck: ein ästhetisches Programm.

Hierbei geht es immer um eine poetische Utopie, eine dichterischverklärte Gegenwelt zu der Realität der Medien mit ihren ideologischenSprachmoden, das, was der österreichische Schriftsteller Heimito vonDoderer die „zweite Wirklichkeit“ nannte. Handke beschwört dieunmittelbare Wahrnehmung und Erfahrung, er kämpft gegen dieSprachlosigkeit, die sich dabei zunächst einstellt, und will sie durchunabgegriffene, wie neu aus der Taufe gehobene Worte und Sätzeüberwinden. Seine Literatur gilt der „ersten“ Wirklichkeit und einersie möglichst unmittelbar treffenden Sprache.

Im Buch attackiert ein Melchior genannter Vielschreiber die HandkescheArt zu schreiben: „Aber Sprachlosigkeit heute? Als Grund desSchreibertums? Ein alter Hut, Schnee vom vergangenen Jahr, kein Thema.Jedes Wort und jeder Satz, sie stehen heutzutage von vorneherein zurVerfügung, gleichsam als Fertigteile ...“ Schreibtechnik, geschulterDramatik, auf Publikumsgunst erpichter Sprachfertigkeit setzt Handkewiderborstige Individualität bis zur Verachtung aller methodischenZwänge und normierter Allgemeinheit entgegen. Diese seine Eigenheit istseit seinen literarischen Anfängen Mitte der 60er-Jahre notorisch. „Diemorawische Nacht“ aber, sein stilistisch lockerstes, befreitestes, wohlauch persönlichstes Buch, kommt seinem poetischen Anspruch, so will esschon nach der ersten Lektüre scheinen, bisher am nächsten.

Was wird erzählt? Ein Autor, der das Schreiben schon vor Jahreneingestellt hat, lädt sieben Freunde auf sein Hausboot, das am Ufer derMorawa, einem Zufluss der Donau südöstlich von Belgrad, „an Bäumen oderStrommasten vertäut“ worden ist. Das Schiff diente einst als Hotel. Dieweit in die Auen strahlende Leuchtschrift „Morawische Nacht“ erinnertan fröhlichere Zeiten. Der Gastgeber wohnt hier schon seit einemJahrzehnt, ganz zurückgezogen, in einer selbstgewählten Enklave. DieGeladenen versammeln sich zu einem Nachtmahl, das vom späten Abend biszum Morgengrauen währt.

Ein Umstand überrascht die Freunde: Der für sein gestörtes Verhältniszu Frauen so berüchtigte Einsiedler empfängt sie zusammen mit eineranziehenden weiblichen Person, bei der sich im Laufe der Nachtherausstellt, dass sie seine Geliebte ist. Nach dem Essen folgen alsErzählung in der Erzählung, ja als eigentliche Geschichte des Buchesdie ausgreifenden Schilderungen des Bootsbesitzers von seiner vorKurzem beendeten Rundreise durch Europa bis an die spanischeAtlantikküste. Seine Stimme wird zwischendurch immer wieder von Fragenund Bemerkungen der Anwesenden unterbrochen. Aber der Ex-Dichter behältdie Oberhand, er besitzt die volle Autorität. In seinem Erzählenspricht er von sich stets in dritter Person. Das subjektive „ich“vermeidet er fast durchgehend.

Trotz der phänomenologischen Haltung des Erzählers, alle Menschen,Dinge und Geschehnisse so objektiv wie nur möglich wiederzugeben, alsozu reden wie die Wirklichkeit selber, tritt – wie ein Paradox oderRätsel – eine ganz persönliche Weise hervor, Erlebtes zu sehen, und einganz persönlicher Stil, es zum Ausdruck zu bringen. Der Erzählerverbirgt seinen Schöpfer Peter Handke nur notdürftig. In seinen Redenoffenbart sich die ganze Meisterschaft, „objektive“ und „subjektive“Perspektive zu wechseln und in fortdauernder Spannung zu halten, umeine lebendige Sprache zu finden.

Die Stationen in Europa, von denen erzählt wird, haben alle ihreBedeutung in der Biografie des Erzählers wie des Autors: der traurige,vom Krieg zerrissene Balkan, die sonnige Insel in Dalmatien, wo ereinst seinen ersten Roman niederschrieb, das steppenartige, von ihm oftdurchwanderte Nordkastilien, in dem sich ein Weltsymposion gegen denLärm einfindet, eine Don-Quichotte-hafte Ironisierung aller globalenDialogforen, die Entdeckung des Südharzes, wo der leibliche Vater desErzählers gelebt hatte, die Durchwanderung des Heimatlands Österreich,schließlich die Ankunft in seinem Heimatdorf in Kärnten, hart an derGrenze zum Balkan. Starke Erinnerungen an die Mutter, die Wahnidee, einSchriftsteller habe alle Frauen zu verstoßen, um dem Buch treu zubleiben, die starken Fremdheitsgefühle im Heimatdorf – alles wird miteiner Fülle von Bildern und Visionen dargeboten, die die Fantasie desLesers zum Äußersten erregen kann. Eine junge Frau wird alsvorbildliche Leserin gefeiert, und der Feind, Melchior, denunziert wieein Teufel die Handkesche Dichtkunst.

Wer nun aber offen ist für diese Dichtung, wird das Buch mitBegeisterung lesen. Hier wird die Geschichte vom verkrachten, vonWahnbildern heimgesuchten Autor, zu einer imposanten Bestätigungpoetischen Könnens. Landschaftsbilder, Entrückungszustände,Zwangsvorstellungen vom Alleinsein, wer kann sie so beschreiben? Handkeverzichtet zuletzt auf alle Empörung über das Schicksal: Die Nachtweicht dem Tag.

Seine immense Arbeitskraft dokumentieren zwei weitere Neuerscheinungen:der von Ulla Berkéwicz besorgte Lyrikband „Leben ohne Poesie“ und dieSammlung seiner Reden und Aufsätze „Meine Ortstafeln – MeineZeittafeln“. Da zieht einer Bilanz, eine sehr starke, wie es scheint.
FOCUS: Herr Handke, Ihr Buch fand die geballte Aufmerksamkeit der Feuilletons. Bedeuten Ihnen Literaturkritiken noch etwas?

Handke: Im März 1966 schrieb Helmut Scheffel in der FAZ über meinerstes Buch „Die Hornissen“: „Dieser Autor betreibtGrundlagenforschung. Man vertraue sich ihm an.“ Damals war ich 23 Jahrealt. Ob man sich mir anvertrauen soll, das weiß ich nicht. Dass ichGrundlagenforschung betreibe, das hat er gut gesehen. Von da an habeich immer wieder großartige und aufmerksame, mich selbst stützende wiebekräftigende Kritiken erhalten. Die habe ich auch gebraucht, denn aufsich allein gestellt, ist man doch relativ verloren.

FOCUS: Sind Sie wirklich so ausgesöhnt mit der deutschen Literaturkritik?

Handke: Ich bin, das muss ich einmal sagen, voller Anerkennung, was diedeutschsprachige Literaturkritik angeht. Mit Philip Roth bin ichnämlich völlig einig, was zum Beispiel die „New York Times“ betrifft.Die leistet sich die schlampigste, oberflächlichste und unbelesensteLiteraturkritk, die ich je erlebt habe. Ihr Literaturteil ist einfachliederlich.

FOCUS: Aber es gab auch immer deutsche Autoren, die Ihre Bücher kritisiert haben?

Handke: Ja, Marcel Reich-Ranicki. Bei ihm habe ich immer den Willengespürt, mich auszuschalten, meine literarische Existenz zu vernichten.Über mein Buch „Das Gewicht der Welt“ urteilte er in einem Satz: Damithabe sich Handke aus der Literatur geschrieben. Nach meiner Erzählung„Langsame Heimkehr“ meinte er, ich sei jetzt erledigt. Diese Angriffeauf meine Person hat er ungestraft vorbringen können.

FOCUS: Das liegt 30 Jahre zurück, und Sie sind aber der deutschen Literatur erhalten geblieben ...

Handke: Um es milder zu sagen, was ich meine. Es gibt eineVerantwortung der Literaturkritiker. Nicht mir gegenüber. Ich kann mirselber gestohlen bleiben. Aber der Literatur gegenüber. Um ein WortEichendorffs abzuwandeln: Die Literatur ist das Herz der Welt, dasgenau, manchmal auch ungenau schlagende Herz der Welt. Das Ungenaue inder Literatur gibt oft ein genaues Bild der Welt.

FOCUS: Zurück zur Gegenwart: Hat Ihnen alles gefallen, was die Rezensenten im vorigen Monat geschrieben haben?

Handke: Warum soll ich mich zu Literaturjournalisten äußern? Ich kannmir ja nicht einmal vorstellen, wie ich in einer Feuilletonredaktionarbeiten könnte. Malen Sie sich aus: Ich komme nach Hause zu meinerMutter, und sie würde mich fragen: „Lieber Sohn, was bist du geworden?“Und ich müsste zu meiner Mutter sagen: „Ich bin Literaturkritikergeworden.“ Ich glaube, das wäre noch peinlicher gewesen, als wenn ichmich als Schriftsteller ausgegeben hätte.

FOCUS: Sie weichen aus ...

Handke: Also gut! Mir sind drei Sachen in der Kritik von Iris Radischim Wochenblatt „Die Zeit“ aufgefallen. Als Erstes: Sie erwähnt dieStelle, an der der Icherzähler mit anderen auf einen Friedhof geht, aufeinen – in Klammern gesetzt: natürlich verschwundenen – serbischenFriedhof. Da wird insinuiert: typisch Handke. Dabei kommen in meinerganzen Erzählung die Worte serbisch oder Serbien gar nicht vor. Dassfür mich ein natürlich verschwundener Friedhof ein serbischer seinmüsse, ist ideologische Unterstellung. Die gehört nicht in eineLiteraturkritik. Dann schreibt sie über mich, ich wäre unter anderemvon Liebe befreit. Und wieder in Klammern: für die er sich allerdingsnoch nie besonders interessiert hat. Was hat das mit Kritik zu tun? EinAutor ohne Liebe ist doch überhaupt kein Schriftsteller. Und zuletzt:„Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer wieder an diesem endlosenBuch seiner selbst ...“ Von oben herab, ohne Achtung für den nachGoethe wünschenswertesten Beruf des Menschen, das Schriftstellertum,betreibt die Göre, hätte ich fast gesagt, Meinungsmache. Was hat siefür eine Ahnung vom meinem Schreiben, vom Schreiben überhaupt?

FOCUS: Das muss sie Ihnen erzählen. Vielen wohlwollenden Kritiken wardie Erleichterung über ihr Schweigen zu Serbien anzumerken.

Handke: Als ob es zu einer Pflichtübung gehörte, haben siefestgestellt: Ah, trotz seiner Verranntheit, was Serbien betrifft, hater sich seine poetische Kraft bewahrt und sie vielleicht sogarerweitert und so weiter und so fort.

FOCUS: Stimmt die Einschätzung nicht?

Handke: Fehlt nur noch die Frage: Was halten Sie von der politischenLage in Serbien oder sonstwo im Balkan? Nein, ich will jetzt ruhigerund ernsthafter werden. Es ist in mir ein anderer Handke als derjenige,der eine Erzählung wie „Die morawische Nacht“ schreibt. Dieser andere,der immer noch Empörte, lässt sich im guten oder weniger guten Sinnemanchmal in einem Gespräch, in einem Interview oder auch am Tisch mitPrivatleuten gehen, wie man so sagt. Sich im Guten oder garkontrolliert gehen zu lassen muss nicht unbedingt etwas Übles sein. Denanderen Handke gibt es immer noch, auch wenn viele Rezensenten meinen,dass ich mich gewandelt hätte und ein selbstironisches, mildes Bild vomBalkan und seinen Konflikten wie auch von mir selbst abgebe. Der Zugzur Selbstkritik, ja zum Selbstbelächeln war immer in meinen Texten.

FOCUS: In Handke, dem Erzähler?

Handke: Ja. Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vomepischen oder erzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mirbeim Schreiben, Erzählen, beim Aufschreiben nichts durchgehen, was ichim Gespräch oder im Streit, auch im aktuellen politischen Streit jegesagt haben könnte. Im Schreiben lasse ich mir nichts durchgehen.

FOCUS: In Ihrem Buch tritt ein Mann namens Melchior auf. Ist das der Anti-Handke, der nichts vom epischen Prinzip hält?

Handke: Ich wollte einen bösen Menschen, einen heutigen Teufelentwerfen – mit süßlicher, sonorer Stimme, stets wohlerzogen undhöflich. Als Schreiber widerfährt ihm nie, was Franz Kafka etwa einmalso beschrieb. „Ein Jahr lang muss ich in mir suchen, bis ich ein wahresGefühl in mir finde.“ Wenn aber ein wahres Gefühl da ist, das in dieErzählung eingeht, entsteht dann nicht eine natürliche, diephysikalische, psychophysikalische Sprache – gegen diejenige, derer mansich in den Medien bedient. Empfindlich für die Sprache zu werden unddas reißerische, künstlich erzeugte Schreiben zu durchschauen, daraufkam es mir bei Melchior an. Aber es war sehr schwierig, so eine Figurin die Intensität und Ruhe meiner epischen Erzählung einzunähen. MeinSchreiben folgt einem Rhythmus, aber ich versuche, immer wieder aus ihmherauszukommen, gegenläufig und immer wieder in Widersprüchen zu sein.Daher die zunehmend vielen Fragen in meiner Prosa.

FOCUS: Wer ist der Gegentyp zu Melchior?

Handke: Das ist sicher der Icherzähler. Aber es gibt noch einenanderen. In der spanischen Steppe porträtiere ich den Dichter Juan LagoLagunas. In seiner kleinen Heimatstadt ist er der verachtetste Mensch,leicht schizophren, was immer das heißen mag. Kein Mädchen schaut ihnan. Die Mutter hält nichts von ihm, weil er Dichter ist. Seine Gedichteerscheinen im Selbstverlag.

FOCUS: Was sollen wir Leser denn mit dieser Gestalt anfangen?

Handke: Er kommt in einer entscheidenden Phase der Erzählung vor. Esgeht darum: Was sind die Dichter heute? Wo sind ihre Leser geblieben?Was ist aus den Lesern geworden? Oder: Die Dichter, die früher einmalVolkshelden waren, wo krebsen sie herum? An welcher Wahnsinnskantebalancieren sie?

FOCUS: Wie viel Autobiografisches ist in Ihr Buch eingeflossen?

Handke: Es ist schwer zu entscheiden, was autobiografisch ist. MeineErzählung ist eine große Fantasie. Ich habe mir vorgestellt, was seinkönnte. Ich kenne ein Boot an der Morawa, auf dem ich schon oftübernachtet habe. Ich kenne es von innen und von außen, vom Rumpf bisin die Küche. Ich habe sogar mal mit dem Gedanken gespielt, es zukaufen. Aus dem Gedankenspiel, das ja nicht nur eine Spielerei ist,entstand dann der Ort der Handlung, das Hausboot. Es heißt inWirklichkeit „Luna“. Ich habe es in „Die morawische Nacht“ umbenanntund in die Zukunft projiziert. Ich bin kein Nach-Erzähler, sondern einVor-Erzähler. Nur die Geschichte meiner Mutter habe ich nacherzählt.„Wunschloses Unglück“, diese Erzählung, ist mir ungeheurerschwergefallen.

FOCUS: Was heißt hier Vor-Erzählen?

Handke: Ich meine die Fiktion. Wie hat Hermann Hesse gesagt? „Ichmöchte endlich wieder das Risiko der Fiktion erleben.“ KeineTatsachengeschichten, sondern das Risiko der Fiktion. Das ist dasSpannendste und das Gefährlichste am Schreiben, die Krönung allerprosaischen Literatur.

FOCUS: Aber es gehen doch eigene Erfahrungen in die Erzählung ein?

Handke: Seit 20 Jahren habe ich im Sinn gehabt, einmal über dieeuropäische Rundreise eines Schriftstellers zu schreiben. Auf meineneigenen Rundreisen sind mir immer die seltsamsten und wirklicherzählenswerten Dinge zugestoßen.

FOCUS: Also fließt doch Autobiogafisches in Ihre Erzählung ein?

Handke: Ich beschreibe ja nicht direkt, was mir zugestoßen ist, sondernich muss episch werden. Ich muss in einen Traum geraten, ich musserfinden, so erfinden, dass meine Erzählung ein Spiegel der Welt ist,unserer Zeit oder unserer Orte, unserer Probleme.

FOCUS: Der Icherzähler hat Probleme mit Frauen. Worum geht es da?

Handke: Nicht um mich, wie einige Frauenfotos im Magazin „Der Spiegel“suggerieren. Meine Frau Sophie, die wirklich die Frau meines Lebensist, kommt da als Freundin vor. Fast beleidigend, oder? Nun: DerIcherzähler löst eine fixe Vorstellung auf. Er bildete sich ein, alsAutor habe er sein Leben der Kunst und nicht den Frauen zu widmen. Dassihm Frauen als Widersacher erscheinen, liegt aber an seiner Natur,nicht am Schriftstellertum. Mit dieser Einsicht verwandelt sich seineNatur.

FOCUS: Das Buch vom abgedankten Schriftsteller – viele Rezensenten fürchteten, es könnte ihr letztes sein. Ist da etwas dran?

Handke: Ich bin im Pensionistenalter, da kommt man auf solche Gedanken.Aber mich beschäftigen schon wieder neue Projekte. Eine Geschichte überPartisanen in Kärnten, ein kleines Pilzbuch, ein Versuch über denstillen Ort, die öffentlichen Klosetts oder die Aborte in Tempeln. Obdas dann so klein und harmlos wird, wie es jetzt klingt? Beim Schreibenkommen die Probleme. In der Prosa muss auch Drama stattfinden.Schließlich doch eine Art Autobiografie, wenn es mich mit 80 noch gibt.Alles nur von den Dingen aus: Was war Schnee für mich? Was sind dieAugen von Menschen?

„Es gibt den Peter Handke, der mehr ist als ich, der vom epischen odererzählenden Prinzip bestimmt ist. Diese Instanz lässt mir beimSchreiben ... nichts durchgehen“ Peter Handke

Weg von hier, hinüber in die Welt!
Von Volker Weidermann
 
06. Januar 2008 Das wäre doch schön: ein Buch, in dem beinahe nichtsgeschieht. Ein flüchtiges Buch, das in den Zwischenräumen lebt,zwischen den Zeilen, wie man so sagt, zwischen den Wörtern und denBuchstaben. Ein Buch, in dem man anstreichen kann beim ersten Lesen,unendlich viel anstreichen; und alles, was man angestrichen hat, dieSignalwörter, die Skandalwörter, erweist sich dann, beim zweiten Lesen,als leer und nichtig, im Grunde überflüssig. Die Anstrichworte heißenzum Beispiel "Balkan" und "Krieg" und "zwischen den Kriegen" und"vereintes Europa", "Schuld" und "Amok", immer wieder "Amok" und"Gewalt".Stattdessen bleibt das Nichtige. Eintagsfliegen, die einen Taglang leben, wie auch sonst? Ein Himmel in Blau, eine Leserin, die einenAutor zupft, um sich zu vergewissern, dass es ihn gibt. Ein Buch aufeinem Haufen Sperrmüll. Ein Erzähler, der Brombeeren isst, am Grabseiner Mutter. Und später erscheint sie ihm sogar im Schlaf, dieMutter, die sich umgebracht hat, damals, als der Erzähler siealleingelassen hatte. Das Gefühl der Schuld hat ihn fast erdrückt, einLeben lang, und nun erscheint sie ihm und sagt: "Du mit deinem ewigenSchuldbewusstsein und deinem Schuldsuchen auch bei anderen. Du bistunschuldig, du dummer Kerl."
Nach einer Weile stellt sich das Handke-Gefühl ein
Das neue Buch von Peter Handke ist in schönes Dunkelblau gebunden, esheißt "Die morawische Nacht" und handelt von einem Erzähler, der aufsein Hausboot auf dem Fluss Morawa in Serbien die Freunde seines Lebenseingeladen hat, um ihnen eine Geschichte zu erzählen. Es ist dieGeschichte eines Rückwegs. Zurück ins eigene Leben, an die Orte, andenen alles begann. Der Erzähler, der uns als Ex-Autor vorgestelltwird, ein Mann, den die europäische Presse vor einer Weile beinaheeinstimmig für verrückt erklärt hat, wandert durch Europa und suchtSpuren seiner selbst, Spuren seines früheren Lebens. Die Stadt inSpanien, in der er sein erstes Buch geschrieben hat und wo er die ersteLiebe seines Lebens fand. Der Ort im Harz, wo sich seine Eltern einstbegegnet sind; der Herkunftsort des Vaters, den er niemals sah; dasGrab des Vaters und das Grab der Mutter. Und schließlich sein altesHeimatland, Österreich, das er früh verließ, sein Heimatdorf, dasGeburtshaus, den Bruder, den er eine Ewigkeit nicht sah und der ihnzunächst nicht einmal wiedererkennt. Handke-Leser werden ihren Handkein jeder Zeile wiedererkennen. Es ist ja der alte Handke, die Motivesind aus vielen seiner etwa siebzig bislang veröffentlichten Bücherbekannt; auch seine guten alten Alter Ego Gregor Keuschnigg und FilipKobal sind wieder da. Trotzdem läuft man gerne wieder mit, all die 560Seiten lang läuft man mit, und nach einer Weile stellt sich dasHandke-Gefühl ein.
 
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Der Schriftsteller Peter Handke
Dieses Ahnen einer anderen Welt, dieses andere Schauen auf die Dinge,diese Verwunderung zunächst über das Nebeneinander desWahrscheinlichsten und des Unwahrscheinlichsten. Und das Ausbleiben derVerwunderung nach einer Weile des Lesens. Ja, auch Jugoslawien kommtwieder vor. Der Kampf darum hatte Handke beinahe mit der ganzen Weltentzweit. Die Wut und der Anklagefuror, die immer wieder auch in seineProsawerke drängten, hatten seiner Kunst nicht gutgetan. Handke suchtenicht mehr. Handke hatte gefunden. Die Bücher waren enger geworden,härter, schwerer, das Öffnende hatte sich zurückgezogen zugunsten einerklaren Haltung, eines Hasses oft in höchster Not. In Notwehr gegen denRest der Welt, der sich, wie Peter Handke es sah, hinter einem allzuklaren Serbien-Feindbild verbunkert hatte. Handke verteidigte das Rechtauf sein eigenes Bild, seine Wahrheit mit aller Macht und mit allemFuror, der einem Einzelnen zur Verfügung steht.Es war immer einsonderbares Nebeneinander von leisester Innenschau,Graswispernlauschen, von Pilzbetrachtung und ewigem Suchen auf dereinen Seite und den großen Welt-Behauptungen auf der anderen, denmaßlosen Angriffen gegen Kirche, Staaten, Akademien. Im Kampf "Einergegen alle" glaubte der eine zu immer größeren Worten Zuflucht suchenzu müssen, um die Übermacht zu übertönen.Im Juni 1977 hat Peter Handkeeinmal an seinen Lebensfreund, den Schriftsteller Hermann Lenz,geschrieben: "Das Leben fällt mir manchmal schwer und keine Gewohnheitstellt sich ein. Aber irgendeinmal muß man sich doch weggedacht habenkönnen und schön gleichgültig gegen dieses aufdringliche Stück Ichwerden. Aber ob man dann vor lauter Haltung nicht erst rechtzusammenbricht?"
Ein Abschiedslied für den Balkan
Das ist der Schriftsteller Peter Handke: das Leben, das Schreiben ohneGewohnheit, das immer wieder neue Denken, neue Schauen, die Sehnsuchtnach dem Sich-Wegdenken, Sehnsucht nach dem Ankommen und zugleich diegroße Angst davor, weil es dann zu Ende sein könnte mit dem Schreibenfür immer.Das neue Buch erzählt von dieser Angst. Der Erzähler, derseine Freunde auf das Boot geladen hat, um von seinen Reisen zuerzählen, ist, wie gesagt, ein Ex-Autor, einer, der sich frei gemachthat vom Schreiben, einer, der nicht mehr schreiben will und kann. Soreist er dahin, schreibt nichts, legt nichts fest, lässt sich nichtfestlegen, sucht und verwirft, und am Ende ist er wieder zum Autorgeworden, ganz ohne "Ex-". Wie es dazu kam?Die Geschichte dermorawischen Nacht ist auch die Geschichte eines Abschieds von einemTraum. Von dem Traum Jugoslawien, dem Traum eines großenVielvölkerstaates, der gleich jenseits der Grenze am Rande desösterreichischen Dorfes begann, in dem Peter Handke aufgewachsen ist.Handke hatte sich schon in seinen letzten beiden Prosabüchern behutsamvon diesem Traum gelöst, im "Don Juan" in eine Frauenwelt hinein, indem rasanten Filmbuch "Kali" in eine rasende Jeepfahrt in dieUnterwelt. Zu Beginn des neuen Buches sind wir mit dem Erzähler nocheinmal in einer serbischen Enklave im Kosovo. Traurig, ruhig undmitleidsvoll beschreibt Handke das Unglück der Bewohner, die in einerBusfahrt durch das sie umgebende feindliche Land, unaufhörlich mitSteinen beworfen, zu dem Friedhof ihrer Ahnen fahren, den es nicht mehrgibt. Die Gräber wurden zerstört, aber sie sitzen da und denken zurückund weinen gemeinsam. Der Erzähler zieht sich zurück. Die Wut, seineWut, leiht er dem Busfahrer, der die Trauernden durch den Steinhagelfuhr und der ins Land hinausruft: "Euer Haß auf jeden, der nicht eurerStaatsangehöriger ist, auf alles, was nicht Staat ist! Keinen Stolzbezieht ihr aus eurem Staat, sondern die Legitimierung und Verewigungeures Hassens."Der Ex-Autor verabschiedet sich von diesem Hass, vondiesem Balkan, von dieser Gegenwart: "Weg wünschte er sich von diesemfinsteren Balkan in die Lichterkettenmetropolen mit den sonor hupendenTaxis zwischen den Wolkenkratzerschluchten, mit den Brücken, auf denenjedes Liebespaar etwas wie ein Friedensgruß war." Weg also von hier,hinüber in die Welt, wie sie früher war oder wie sie einmal sein könnte.
Das Monstrum in der Geschichte
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Die morawische Nacht
von Handke, Peter
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Eine Vorstellungswelt aus der Vergangenheit. Oder einer Zukunft. Sowandert er umher. Nimmt teil an einem Kongress der Lärmgeschädigten,die zu jedem Gewaltakt gegen den allgegenwärtigen Krach der Welt unddessen Verursacher bereit sind. Ist Zuschauer und Zuhörer bei einemTreffen der Maultrommelspieler dieser Welt, die am Ende in einschrilles Aufspielen der Nationalhymnen ihrer Herkunftsländerverfallen. Es ist ein Schrecken, den er flieht, der Ex-Autor. Doch dergrößte Schrecken ist die Frau, die eine Frau, die ihn liebt, die ihnverfolgt."Zur Hölle mit ihr", heißt es schon zu Beginn. Und "Zur Höllemit dir" dann ganz zum Schluss. Bevor er zuschlägt. Zunächst noch "einLächeln von ihr, im Glauben, er rede im Spiel und seine Sätze meinteneher das Gegenteil. Aber schon hatte er sich auf sie gestürzt und aufsie eingeschlagen, einmal bloß, bloß? so stark, daß sie stracks zuBoden fiel".Er war die ganze Zeit vorbeigezogen an lauter Monstern aufseiner Wanderung, an Schreckensboten und Schreibbedrohern. Doch hier,kurz vor dem Schluss, "entpuppt sich als nächstes Monstrum in derGeschichte der Erzähler selbst". Ja, ein Monstrum, das zuschlägt, wennes eingeengt wird von einer anderen Macht. Ein brutaler Schläger, dersich seine Freiheit erkämpft. Ja, ein Monstrum, aber eines, dasmonströs handeln musste, wie er sich selbst bescheinigt: "Er hatterecht gehandelt. Triumph!", ruft er sich am Ende zu.
Als Leser ist man da nicht ganz so schnell mit dem Freispruch bei derHand. Die Gewalt des Erzählers bleibt als Schock zurück. Ein Autorkämpft sich frei, mit aller Macht. Von allen Zwängen frei, frei vonSchuld, frei von allem, um wieder zum Schreiben zu finden. Und zumSehen, jenseits des Zeitungssehens: "Am nächsten Morgen, was stand dain der Zeitung? Nichts, und wieder nichts. Tags darauf stieg jemand aufeine Leiter aus Strohhalmen, und sie hielt, und am Abend desselbenTages drückte jemand auf eine Klinke, und die Tür ging auf. Ein paarTage später spielte jemand auf einer Maultrommel ,Der Tod und dasMädchen' und jemand schüttelte beim Weinen den Kopf."Am Ende ist nichtsmehr da. Er kehrt zurück, doch das Boot ist fort. Die Enklave ist fort.Die Morawa ist versiegt, und auch die Freunde gibt es nicht mehr oderhat es nie gegeben. Er schreibt ein Buch, schreibt es wie früher in derNacht: "Nicht wenige solcher nächtlichen Bücher hatte der Autor im Laufseines Lebens verfaßt, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst wordenwaren. In nichts? Wirklich?"Ja - fast nichts. Keine Botschaft, keineNachricht, nur Schönheit als Ahnung und Lesen als Glück. Fast nichts -und mehr denn je.
Buchtitel: Die morawische Nacht
Buchautor: Handke, Peter

Text: FAZ
Der Prinz von Nirgendwo
05. Januar 2008 Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, waren auseiner anderen Zeit noch ein paar übrig, die der Idee oder demHirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, ineinem anderen Europa nachhingen." Aber es sind nur noch wenige,vereinzelte, und sie wissen, dass am Gang der Geschichte nicht mehr zurütteln ist. Immer weniger werden sie, dezimiert durch plötzliche,nicht selten gewaltsame Todesfälle und Selbstmorde. Wer übrig bleibt,wird wunderlich, paranoid, verrückt. Zum Schluß sind es nur noch drei,die an einer letzten "Konferenz" teilnehmen. Sie findet statt in derslowenischen Delana Dolina, einer kreisrunden tiefen Grube im Karstoberhalb von Triest, der "Mutter aller Karste."
Hie kommen ein ausgemergelter ehemaliger amerikanischer Außenminister,eine zierliche japanische Motorradrennfahrerin und ein "abgedankterAutor" zusammen, um des "alten Karstweltreiches" zu gedenken und dieErde nach "Balkansitte" mit ein paar Tropfen aus ihren Weingläsern zutränken, den Entschwundenen zum Gedächtnis. Über ihren Köpfen hängteine alte Schiffsglocke, kyrillisch wie lateinisch beschriftet, mit amGlockenrand festgerostetem Klöppel. Und jetzt blähen die drei wie aufein geheimes Zeichen ihre Backen und pusten den Klöppel an, um dieGlocke zum Klingen zu bringen. Aber es gelingt ihnen nicht, nichteinmal dem "Ehedem-Autor, dem man doch einmal den epischen Atemnachgesagt hatte . . ." Erst als sie sich abwenden, hören sie in ihremRücken "doch noch etwas wie einen Klang, eher ein klägliches Bimmeln,oder ein bloßes Rascheln, wohl nur in der Einbildung? Nur?"
 
 
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Nein, Peter Handkes Balkan ist nicht mehr von dieser Welt. Mit dieserSzene, die Züge des Märchenhaften, Versponnenen, aber auchIronisch-Satirischen trägt, verabschiedet Handke seinen Traum vomvereinten Jugoslawien. Der Balkan, das war Peter HandkesPrivatmythologie, scheinbar unauflöslich mit der Vergangenheit desSchriftstellers verknüpft, mit seiner Kindheit, seinen Vorfahren,seinen ersten Reisen und ersten Büchern, und deshalb eineAngelegenheit, die mit Zähnen, Klauen und allen anderen ihm zu Gebotestehenden Mitteln verteidigt werden musste. Mit seinem jüngsten, indiesen Tagen erscheinenden Buch "Die morawische Nacht" lässt Handkeseinen Traum fahren, um seine Freiheit wiederzugewinnen. Es einBefreiungsbuch, das eine zur Obsession gewordene Leidenschaftverabschieden möchte, gewiss nicht leichtfertig, aber doch erstaunlichleichtherzig, wie es scheint. Das kleine, wie zaghaft nachgeschobenenefragende "Nur" am Ende der beschriebenen Szene ist in Wirklichkeit einauftrumpfendes "Nur", ein Fanfaren-Nur: Es verkündet Abschied undRückkehr zugleich, einen Abschied von den Landkarten und Grenzen derWirklichkeit und die Rückkehr ins Reich der Poesie und in die eigeneVergangenheit, die Handke mit diesem Buch wiedergewinnt, weil er darinaufgehört hat, sein ganzes Tun und Wesen mit einer Kindheits- undTraumlandschaft unauflöslich zu verknüpfen.
Das setzt nicht Verzicht voraus, sondern Verwandlung. Handkes Balkanist nicht mehr von dieser Welt, und deshalb kann er ihn jetzt überallfinden, im Harz zum Beispiel. Hierhin zieht es den Erzähler, weil hierder Vater begraben liegt, den er nie gekannt hat. Das Grab isteingeebnet, statt des erwarteten Gedächtnisortes, Ziel der nie sobezeichneten Pilgerschaft, liegt ein "vollkommen flaches, Grasdurchwachsenes Schotterviereck" vor ihm, leer und flach wie ein BlattPapier. Und wie ihm zuvor auf einer Adria-Insel ein sprechender Hunddie Leviten gelesen hat, weil er eine frühere Geliebte mit einem Kindsitzengelassen hatte, ist es nun ein Zitronenfalter, der sich in einuraltes Weib verwandelt, eine "Harzeinheimische", die ihren Stock gegenden Erzähler schwingt.
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Die morawische Nacht
von Handke, Peter
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Soeben noch hatte er in stolzem Selbstmitleid geschwelgt, "Ah, meineverdammte Vaterlosigkeit! Ohne Vater: außerhalb des Rechts", nunfliegen ihm die Vorwürfe nur so um die Ohren: "Ja, verdammterVaterloser, Du! Hältst Dich für unverwundbar, weil du nie einen Vatergehabt hast . . . Deinen Vater los: der Freieste der Freien? Nichtdoch, mein Lieber: keines-Vaters-Kind wird nie ein Erwachsener . . .".So geht es weiter, ein Verbannter sei der Erzähler, ein Ortloser, einPrinz des freien Raumes habe er sein wollen und sei doch nur ein "Prinzvon Nirgendwo, Prinz-ohne-Raum" geworden.
Prinz ohne Raum, das ist ein Titel von stolzester Bescheidenheit, wieer Peter Handke gefallen dürfte. Überhaupt liegt immer wieder etwasdurchaus Genüssliches in den Vorwürfen und Selbstbezichtigungen, mitdenen Handke seinen Erzähler traktiert. Idiot, Dorftrottel, Hausstock,Verräter, zweifach Unfähiger - kein Zwiegespräch kommt ohneBeleidigungen aus. Und dieser Erzähler, so eigensinnig, verstockt,bärbeißig und hochfahrend er sich auch gibt, braucht das Zwiegesprächmit Pflanzen, Menschen, Tieren und immer wieder, in den rarenSekundenbruchteilen des gelingenden Lebens, mit den Dingen. Dass ihneine Gemse als "Tiefland-Trottel bezeichnet, nimmt er ebenso gelassenhin wie die Suada des falschen Freundes Melchior. In dieser Episodeerweist sich der Journalist und Schriftsteller als skrupelloserKonkurrent, ja mehr noch, als Plagiator und Todfeind. Die Dichtung seitot, einzig die Zeitungssprache sei lebendig und der schreibendeArrangeur der einzige Nachfolger des abgedankten Poeten: "Und du, meinTeuerster, auf den Müllhaufen der Geschichte mit dir . . . Ich bin dasMonstrum, das jubiliert." Aber der tödliche Zweikampf bleibt aus: DerErzähler wünscht den Rivalen einfach zum Teufel, und sein Wunsch wirderfüllt.
Dass die Sache der Poesie so einfach nicht zu bewahren ist, weiß Handkenur allzugut. Im Zwiegespräch mit einem echten Freund, dem WienerVolksund Zaubermärchendramatiker Ferdinand Raimund, stellt dermittlerweile durch Österreich reisende Erzähler die Frage, ob es nochMärchen zu erzählen gebe. Die Antwort lautet: "Nein. Oder bestenfallsin Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern."
Aus solchen Märchenbruchstücken besteht dieses Buch: die Reminiszenz andas erste Buch und die erste Geliebte auf einer Adria-Insel, dieHarzreise zum toten Vater, der Weltkongress der Maultrommelspielerunweit von Wien, die Begegnungen mit den alten Freundden GregorKeuschnig und Filip Kobal aus den Büchern "Die Stunde der wahrenEmpfindung" (1975) und "Die Wiederholung" (1986), schließlich dasWiedersehen mit dem Bruder beim lange hinausgezögerten Besuch imHeimatdorf - all das sind Binnenepisoden, unterbrochen von oftverrätselten Sekundenmärchen, Reiseskizzen und der Schilderungzahlloser Zufallsbegegnungen. Erstaunlich unverblümt verhandelt Handkehier Intimes und Autobiographisches, die Familiengeschichte ebenso wiedie verstörende Erfahrung der Ablehnung, die er seinem missglücktenEngagement für Serbien zuzuschreiben hat, oder das schwierigeVerhältnis des Dichters zu Frauen.
Wie schon in seinem letzten Roman "Kali" betreibt Handke auch im neuenBuch eine krude Remythisierung des Geschlechterverhältnisses unterdeutlich misogynen Vorzeichen. Die Frau, das bedeutet, in den Wortendes "alten Kumpans" Raimund nichts Gutes: "Achtung, Frau, Achtung,Verrat, Achtung, Todeszone." Aber auch die Gegenstimme ertönt aus demReich der Toten: Es ist die Mutter, die den Sohn zurechtweist, ihm alleSchuldgefühle nehmen will und das "Wunschlose Unglück", das ihr derSohn im berühmten frühen Buch attestierte, kurzerhand zurückweist:"Genug der Schuld und der Schuldsuche. Genug des Selbstmarterns und desMarterns der anderen . . ."
Peter Handke vergibt sich selbst - und nebenbei, noch einSekundenmärchen, auch Deutschland und Österreich. Er spricht mit seinenToten, erklärt sich zum mal "durchgedrehten", mal "abgedankten Autor",um zurückzukehren als Autor eines Buches, das unübersehbar den Beginndes Alterswerks markiert. Handke hat Vergnügen daran gefunden, sich vonaußen zu betrachten und mitunter zu lächeln über das, was er da sieht."Die morawische Nacht" ist der Versuch eines Dichters, mit sich und derWelt ins Reine zu kommen. Für jemanden, der den Streit oft mehr zulieben schien als den Frieden, ist das erstaunlich gut gelungen.
- Peter Handke: "Die morawische Nacht". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 559 S., geb., 28,- [Euro].
Buchtitel: Die morawische Nacht
Buchautor: Handke, Peter

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.2008, Nr. 4 / Seite Z5
 
Vielstimmige Traumreise durch Europa
Peter Handkes grosse neue Erzählung «Die morawische Nacht» ist komplexund doch federleicht. Ein Meisterwerk der Wahrnehmung. Von Bruno Steiger
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Als zwischen den Zeiten schwebendes erstes und letztes Versteck nimmtsich das am Ufer des serbischen Flusses vertäute Haus- und Hotelbootaus, zu dem uns Peter Handke in der Nacht seiner Erzählung herbeiruft.Wir, das sind die Leser und Leserinnen des Buches – und die Freunde desBootsherrn, sieben an der Zahl, von einer tonlosen Stimme aus demSchlaf gerissen und zu Zuhörern ernannt. Es ist Neumond, die Gegenderhellt nur von der Leuchtschrift des Namens der schwimmenden Herberge.MORAWISCHE NACHT lautet er, auch im Buch in Grossbuchstabenwiedergegeben, in schwarzen freilich. In diesen Lettern wird das Bootauf der Morawa zum Handlungsort und Wunschziel eines Erzählens, dasnichts anderes im Auge hat, als heimzufinden. Heim zu sich selbst, zuuns, «zu meinen Kindern, meinen Anvertrauten, meinen Gespenstern». Und,wer weiss, zu der einzigen Frau an Bord.
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Aufbruch ins Offene und Zurückirren in eine verlorene Herkunft warendie bevorzugten Motive von Handkes gesamtem Schaffen der letztenJahrzehnte. Den epochalen Sprung in seinem literarischen Unterfangenbildete 1979 die Erzählung «Langsame Heimkehr». In dieser Prosa vollzoger die Wende von einem im weitesten Sinn sprachkritischen Erzählen zurepisch entfalteten Ding- und Wortsorge.
Sprachbewegung
Hinzu kam bald eine Drift ins Märchenhafte, in die Randbezirke desSagbaren. Nur auf der Grenze zwischen Wachtraum und Imagination scheintsich für den Dichter so etwas wie Wirklichkeit abzuzeichnen. Auf (undmit) dieser Grenze spielt auch «Die morawische Nacht». Wieder ist esein Reiseabenteuer, das bestanden und nacherfunden werden will, imtastenden Vor und Zurück einer Bewegung, die, wie bei Handke immer,zuallererst Sprachbewegung ist. Diese Bewegung heisst immer auchAufschub, Rückschau, Wiederaufnahme, nur darin scheint es weiterzugehenin der raumschaffenden Einholung jenes «episodischenVerschwundenseins», aus dem nach Hause zu finden seine Weltpilgerbeauftragt sind.
Sind es Flüchtende? Und, falls ja, in welche Richtung ginge denn dieFlucht? Handke lässt es einmal mehr offen. Als Rundreise im Zickzackstellt er das zwölfmonatige Unterwegssein seines Protagonisten dar.Quer durch Europa führt die Reise, vom Balkan zur spanischen Westküsteund zurück; zurück zu dem Boot auf der Morawa, auf dem der «Ex-Autor»seinen Gästen Bericht erstattet. Von den Stationen der Reise erfahrenwir aus dem Mund ebendieser Gäste.
Ich-Figuren sind es allesamt; als Chor von Lauschenden geben sie dasGehörte an den Leser weiter. Hin und wieder mischt sich «die Fremde»,«die Frau» ein, ins Erzählen wie ins Weitersagen, und wenn es dann dochnoch zu der immer wieder einmal in Aussicht gestellten Liebes-? – nein:«Frauengeschichte» kommt, kann nur sie es sein, die den Anfang macht.
Entrücktheit
Mehr zu machen, ist ihr nicht gegönnt. Sie, namenlos wie alle auf demBoot, Gesicht und Gestalt «nur zu ahnen», war dem Reisenden in Spanienüber den Weg gelaufen. In einem Eukalyptuswäldchen kam man sich näher,nur um sich alsbald wieder aus den Augen zu verlieren. Nicht aber ausdem Sinn. Immer wieder wird der Erzähler sie ansprechen, aus jenem sichverlässlich vergrössernden Abstand heraus, der ihn weiterbringen sollauf seinem Rund- und Retourkurs durch Europa.
Es ist ein Europa, das es, man mag es bedauern oder nicht, so nur beiHandke gibt. Wüst befriedet scheint es, fast meint man, es mit einerEnklave jenes sagenhaften «anderen» Balkans zu tun zu haben, der immerwieder einmal angesprochen wird. Es ist eine Art Ex-Europa, in Betrachtgenommen und vergegenwärtigt von jenem ganz und gar Einzelnen, der esdurchstreift.
Vielfältig sind die Stationen seiner Suche nach einem Ort, an dem esnoch «mit rechten Dingen zugeht». Erfolgreich kann die Suche nur imErzählen sein, genauer: in den Nacherzählungen der an Bord der«Morawischen Nacht» sich ums Kaminfeuer Scharenden. Aufgerufen werdenetwa die Bilder der kleinen Adria-Insel, auf welcher der Ex-Autor alsjunger Mann sein erstes Buch verfasste. In der spanischen Steppe dannist es ein Symposium für Lärmkranke, an dem er teilnimmt, als stillerZeuge, wie es sich gehört, aber nicht ohne heftige Ausfälle gegenalles, was ein sensibles, nach innen horchendes Ohr beleidigt. «Leise,leise!» geht es weiter, in den Harz ans Grab des Vaters, dann zu einemverwunschenen Wirtshaus in den Donau-Auen, wo er sich als ebensobegeisterter wie inkompetenter Zaungast eines «Weltmaultrommeltreffens»profiliert. Flankiert werden die Reisebilder von essayistischenExkursen der Autorstimme. Überlegungen zum Thema Schreiben und/oderLeben bilden den Schwerpunkt, eindrücklich exemplifiziert am gewaltigenProblem der Unvereinbarkeit von Paarbeziehung und dichterischerExistenz. Dazu kommen Reflexionen zum «anderen Zeitmass» einerpoetischen Wahrnehmung, sie gipfeln in einem Plädoyer für jenekontrollierte «Entrücktheit», die einen vor der immer drohendenendgültigen Entgeisterung bewahren soll.
Wer meint, in diesen Passagen auf Distanz gehen zu müssen, mag sich andie vielen kleinen wunderbaren Beobachtungen halten, mit denen Handkeseine Thesen mehr als nur untermauert. Da ist etwa der an einen Baumgebundene spanische Esel, dessen Eulenruf von einer Eule mit«Eselsgestöhn» quittiert wird. Da ist ein langsam rückwärtsfahrenderBus, «langsam, langsam, damit der Anhänger nicht ausschert»; in einernicht minder bewegenden kleinen Epiphanie kommt das Raumgefühl derartdurcheinander, «dass man beim Knurren des eigenen Magens einen Schrittzurückwich».
Ebenso eindrücklich, ja in höchstem Mass bedenkenswert die (an einen«Herrn Naseweis» adressierte) enthusiastische Beschreibung des Ernsts,mit welchem sich ein junges Mädchen auf einer Bahnfahrt über denSemmering in ein Buch vertieft. Es ist ein Buch des Ex-Autors; im«strahlenden Ernst», mit dem es studiert wird, wird die Lesende zurMitspielerin des Gelesenen: «Alles, alles an ihr, mochte sie noch sostillesitzen, spielte mit dem Buch mit, und wenn dieses solch Offen-und Schönwerden (aber, war nicht Offenheit für sich schon dieSchönheit?) hervorbrachte, so verdiente es in der Tat einmal seinenNamen, oder etwa nicht?»
«Oder etwa nicht?» Die Frage kann als unterirdischer Leitsatz derganzen Prosa gelesen werden. Immer wieder wird der Berichtende inseinen «Wortklaubereien» zur Ordnung gerufen, meist von sich selbst,häufig auch von jenem «ewigen Zwischenfrager», der es genauer, amliebsten ganz genau haben möchte. Als Fürsprecher der «sogenanntenRealität» mischt er sich ein in das sonore Gemurmel eines Erzählens,das sich seiner Anlässe nur durch Abschweifen versichern kann.
Es ist auch der Umweg in ein Buch-Ende. Dort, da, am Ende dermorawischen Nacht, wird die Frage «Oder etwa nicht?» in ihreerhebendste Konsequenz aufgelöst. Im Aufjubeln über diesen nur ingeniöszu nennenden Schluss ist das Bedauern, dass das Buch nicht tausendSeiten mehr umfasst, umso grösser.
Bruno Steiger
eue Peter-Handke-Erzählung
Falkenfeder und Rehbock
Auf der Suche nach dem Balkan kommt Peter Handke in "Die morawischeNacht" dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts nahe - also, literarisch.VON MICHAEL RUTSCHKY
 
Auf der Suche nach Echtheit: Handke beim Kirchenbesuch im Dorf Hoca.    Foto: ap
Oops, he did again. Kurz vor der Wahl, las man in der Zeitung, habePeter Handke den Kandidaten Nikolevic von der radikalnationalistischenPartei besucht und hinterher einer Zeitung erklärt, er würde ihn zumPräsidenten wählen - statt des internationalistischen Tadic -, wäre erSerbe.
Dabei hatte er doch gerade für das jüngste Buch von den Kritikern soviel Lob erhalten. Keine Spur darin von seiner widrigen Anhänglichkeitan die Miloðevic-Bande; als wäre er endlich geheilt. Ja, die große neueErzählung schien mit diesen Affiliationen selber ein ironisches Spielzu veranstalten, mittels dessen Peter Handke seine Obsession durchJugoslawien loswurde, dies "Hirngespinst von einem zusammenhängendengroßen Land auf dem Balkan". Man konnte das neue Buch alsDesillusionsroman lesen, der diesen Träumereien spöttisch den Garausmacht.
Wer das Buch liest, wird große Mühe haben, es nicht wunderschön zufinden. Peter Handke hat im Lauf der Jahre eine Erzählprosa erfunden,die sich literarkritisch am besten mit der "Ästhetik des Erscheinens"fassen lässt, die der Philosoph Martin Seel seit einiger Zeitausarbeitet. Jeder Satz dieser Erzählprosa macht den Leser begierig aufden nächsten, ohne dass ein übergeordneter Plot die Spannung aufbaut.Im Grunde beschäftigen Peter Handkes Bücher den Leser mit nichts alsschönem Lärm. Der zauberhaft und ganz unwiderstehlich hereindringt.
Diese Neologismen beispielsweise. Die man für manieristisch haltenmöchte und in die man dann doch aufmerksam hineinhört. EinGesichtsbedürftiger, der Hummelsterbetag, das Freierschnaufen, derZitronenfalterwind, das Grasniemandsland, der Alleinseinsidiot. -Sodann pflegt Peter Handke innige Beziehungen zu den Titeln vonabgelegenen Büchern, Filmen und Songs. Sie kamen bis Cordura. Die Nachtdes Jägers. Die Sterne blicken herab - in seinen kritischen Schriftenfindet man immer wieder bezwingende Beschreibungen gerade solcher Werke(Frank Perrys Film "The Swimmer" von 1968 - Sie wissen, was ich meine).Oder seine Neigung zu Kalauern; hier ignorieren sie die Regel, no jokeswith names: Karla vom Bruck, Gringo Busch, Josip Fisherman, MagdalenaGanzhell, Bernhard-Hinrich Glückskraut, Ossim Weichsohn und sogar derA. Hüttler.
Dies sind Jokes, es ist aber auch eine Feindesliste. Die Träger derverhohnepipelten Namen verkörpern die Allerwelt und setzen derenHerrschaft "bei uns auf dem Balkan" durch. "Sind jetzt ein Staatsvolkwie die Litauer, wie die Katalanen, wie die Transnistrier, wie dieCisnilianer, wie die Talkalmüken, wie die Bergslowenen, wie die Donau-und die Mekongdeltaautonomen." Was ist die wirkliche Wirklichkeit,unterhalb der lachhaften Konzeption vom Staat und seinem Volk? Dieschiere Landschaft, der Karst beispielweise, dem Peter Handke, wieseine Leser wissen, schon so lange seine literarische Aufmerksamkeitwidmet. "Mag sein, daß der Karst auch schon vorher ein Gebiet ziemlichmitten in Europa gewesen war. Inzwischen freilich war er erklärtermaßenBestandteil von etwas, zuerst eines Gefühls, dann einer Vorstellung,zuguterletzt einer Norm, die >Mitteleuropa< hieß, nicht wahr?"
Und dagegen geht alle literarische Arbeit, dass eine Landschaft, einOrt, ein Lebenszusammenhang einer Norm sich fügt, die von außen kommt,die Gringo Busch und Karla vom Bruck, Bernhard-Hinrich Glückskraut undMagdalena Ganzhell verhängen, indem sie über jene fernen, den Horizontdieser Landschaft und Lebensform begrenzenden Berge hereinbrechen; vondem A. Hüttler zu schweigen.
Dass er, wäre er Serbe, den nationalistischen Kandidaten Nikolicgewählt hätte, das entspricht dem Schema, das Peter Handke in seinerLiteratur verfolgt. Es ist tatsächlich das Schema des Nationalismus,wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Eine Landschaftbeherbergt einen authentischen Lebenszusammenhang - den fremde Mächtesofort ausbeuten, manipulieren, zerstören wollen, wogegen derauthentische Lebenszusammenhang mit Blut zu verteidigen ist (was seineAuthentizität beglaubigt). Denn alle Superstrukturen, werden sie nunvon Josip Fisherman oder dem A. Hüttler implantiert, sind Willkür undZufall und Täuschung und Gewalt. Ontologische Dignität zeichnet einzigjenen unverwechselbaren Lebenszusammenhang in dem Bergtal aus, dieWiesen mit den Pflaumenbäumen, die der internationale Konzern fällt, umnach Öl zu bohren.
Die Paradoxie liegt darin, dass der authentische Lebenszusammenhangseine eigene ontologische Würde nicht auszusprechen vermag. ">Es<zeigte sich dann, stumm, und damit hatte es sich. Nicht nur bedurfte eskeiner Worte. Diese waren nicht mehr am Platz" - nein, die Worte warenin der Hauptstadt, wo Philosophieprofessoren, Zeitungsredakteure,Dichter sie im Übermaß von sich gaben, um den Nationalismus zu einermachtvollen Ideologie aufzubauen. Er, der das serbische Volk als daswirklichste Volk Europas erkennt (dem gegenüber alle anderen inScheinhaftigkeit verschwinden), ist kein Serbe.
Aber Peter Handke ist auch kein Philosophieprofessor, der - nachdesillusionierenden Durchgängen durch den Marxismus, die Postmoderne -plötzlich die Nation und ihre adamitische Sprache in ihrerontologischen Unvergleichlichkeit und Unverfügbarkeit erkennt. SeinNationalismus ist, sofern er sich nicht politisch äußert (und dann aufein fernes Land bezieht), ein literarisches Verfahren - dem seine Leserdiese wunderschönen Bücher verdanken. Am Ende des neuen Buches - unddas versöhnte die Kritiker so innig - sprach er es aus, dass seinBalkan eine poetische Universalie ist, kein geografischidentifizierbarer Ort, der der Entfremdung verfiel und jetzt gereinigtund wiederhergestellt werden muss.
"Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock, der sichbei dem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochen hatte, imdeutschen Harz. Die Pfahlhäuser an der Donau östlich von Wien, mit denim Leeren aufgehängten Reusen und dem Gerümpel unter den Häusern in demGeviert der Pfähle, die ausgedienten Kühlschränke, Gasflaschen,Autoreifen: Balkan." Und so weiter. Was alles der Autor bei seinenWanderungen und Reisen durch die Welt aufgeschrieben hat, als entstündedarüber die adamitische Sprache.
Peter Handke: "Die morawische Nacht". Erzählung. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2007, 561 Seiten, 19,80 ¤
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Nichts und wieder nichts
Und dazu ein Gläschen Brückenmost: Peter Handkes Erzählsermon "Die morawische Nacht"
Sabine Vogel
Die Morawa ist ein Fluss in einem "zur Kümmerecke Europas verkrachtenLand", sagen wir der Einfachheit halber einmal: in Ex-Jugoslawien. Einsogenannter Ex-Autor haust dort in einem ehemaligen Hotelschiff, das inder Nähe des Dorfes Porodin und der Stadt Velika Plana, nein, nichtverankert, eher so an Bäumen oder Strommasten lose vertäut ist. Spät,aber doch noch weit vor Mitternacht dieser einen Nacht, von dem dieselange Erzählung zum kurzen, ja was eigentlich, Abschied?, handelt,fühlt sich ein etwa halbes Dutzend Männer auf diese am Ufer dümpelnde"Fluchtburg" gerufen. Wie sie da durch die Nacht auf das einladendleuchtende Ex-Hotelschiff zu Fuß, per Fahrrad, mit bald im Ackerwegstecken bleibenden Autos, sogar einem Traktor, über die neumonddunklenUferwiesen "zickzackten", von Wildhecken und Matschfurchen am direktenWeg gehindert, zunächst jeder für sich stolpernd, bald zu einer Kolonneaufgeschnürt - das hat etwas Bauerntheatralisches vollkomisch-gruseliger Sinnlichkeit.
Aber das war es dann auch schon damit. Peter Handke ist halt kein EmirKusturica, statt dem irren Surrealismus des Filmemachers pflegt dereinfühlsame Dichter eher die epische Anämie, gleichwohl auch er vonmärchenhaften Eingebungen und traumverlorenen Begegnungen zu berichtenweiß. Zunächst aber ziert er sich noch.
Jenen sieben Besuchern fällt die dramaturgische Rolle zu, dem Sermondes Ex-Autors zuzuhören, und uns, den Lesern, davon etwas zuübermitteln. Manchmal dürfen sie, die zugleich die zeitweiligenWeggefährten des Ex-Autors waren, auch ein Stichwort geben oderzwischenfragen. Die Gäste werden an Einzeltischen im Bootssalon"auseinandergewürfelt". Es wird "genachtmahlt". Dazu rubinrote Weinemit Namen wie Melancholija, Brückenmost, Auspuff von den südlichenMorawa-Ebenen, von Varvarin und vom Amselfeld. Da ist auch eine Frau(!), die auf- und abtafelt und dazwischen - wie es sich für diebalkanischen Sitten gehört - still und schön in der Küche sitzt. Davonjedoch viele Stunden und Seiten später viel oder auch wenig mehr.
Ja, wovon handelt nun die eigentliche Erzählung? Leise, dunkel undlangsam, wie das ringsum platschende Wasser der Morawa lässt sich der"Autor-in-Ruhe" in einen zittrigen, aber gleichmäßigen Erzählflusshineintreiben, der seiner hier zu Ende gehenden Rundfahrt,"Rundflucht", seiner "Irrfahrt, Todesfahrt, Amoklauf" durch die "HeimatEuropa" gemäß werden soll.
Doch wer nicht abfährt, kommt nicht an. So also zunächst der Ort desAufbruchs. Nicht nur das "Fluchtboot" ist eine Enklave, das walachischeDorf Porodin selbst ist eine, eine serbische doch wohl, hundertKilometer von Belgrad, verbunden damit nur durch einen "Korridor",befahrbar unter Polizeischutz, durch Feindesland. Und da, beimEnklavenbusbahnhof auf einem Hinterhofschuttplatz, inmitten derweinenden Flüchtlinge, inmitten all des lärmenden "Wehs", da leuchtendie müden Augen des ehemaligen Autors plötzlich auf. Ja, das Herz gehtihm auf, es blutet wieder, "wie es, so kam ihm vor, seit einer 'ganzenEwigkeit' nicht mehr geblutet hatte". Nicht eingezwängt fühlt er sichin der Menge, sondern frei, so frei, wie er in all den Jahren niegewesen war.
Was der sogenannte "Ex-Autor" mit diesem fast obszön ehrlichenBekenntnis als ein Wiederfinden des "Menschenhorizonts" beschreibt,könnte zugleich die Schlüsselszene für Handkes ganze zwiespältigeSerbienliebe darstellen. Und damit, auf Seite 54, hätte die Erzählungaufhören können - wenn nicht der Ex-Autor doch noch ein anderer gewesenwäre. Dieser nämlich schreibt weiter an seinem einen Endlosroman überdas Schreiben und die Weltwahrnehmung. Jene Reise also führt ihn zuverzauberten, versunkenen und mit der Verlorenheit des Autorskonkurrierenden Orten wie etwa dem spanischen Numancia, wo er an einemkuriosen Kongress der Lärmkranken teilnimmt, oder zu einem Gasthaus derNamenlosen, in dem ein fantastischer Wettbewerb der internationalenMaultrommler ("Judenharfer") stattfindet. Und zwischendrin durchrauschtdem einsamen Wanderer die Naturromantik ganzschön gewaltig, bis einZitronenfalter sich niederlässt, den Hintern hebt und über seinen Kopfnach vorne "scheißt".
Aber die Reise treibt den Ex auch in ziemlichem Masochismus endloseAusfallstraßen entlang, bei denen er sich bei der Betrachtung derpassierenden Autos zu Schreibübungen über das verschiedene Halten desLenkrads versteigt: "Die häufigste Haltung, so erkannte er mit derZeit, war wohl: beide Hände benachbart nach dem gleichsam unteren Poldes Radkreises, und da war die Siegerin die, bei welcher das Rad vonuntenhinten umgriffen wurde, so daß die Finger, bis auf den Daumennatürlich (wie sonst?), auf den Chauffierenden zuliefen, während diezweite Siegerin die war, bei der die zweite Hand den Volant an dessenerdnahen Pol gleichermaßen von vorneoben oder oberhalb und von vorne,umgriffen, mit dem Anschein von um das Rad geballten Fäusten, an denen,Großaufnahme innerhalb der Großaufnahme, vor allem die Knöchel, hellerals die übrigen Hände, in die Augen stachen."
Was das soll? Es besänftigt den Gehenden, dass dieser "Film", der inihm abläuft, keine Geschichte erzählt und "auf nichts hinausläuft". DenLesenden mögen solche Serpentinensätze langweilen, es sei denn, ergenießt diese umstandskrämerische "Geheimschrift", die wiederum "nichtsund wieder nichts" bedeutet, als reine literarische L'art pour l'art.Prosa pur? Wenn da nicht die penetrante Selbstverliebtheit desParanoikers, die überhebliche Empfindsamkeit des Neurotikers wäre,nicht dieses untergründige Geraune einer behaupteten Gefahr, diesebehauptete Flucht vor einer Frau, die dem Schreiber, dem Schreiben?,den Tod androht. Und dann das affige "dir" in den Sätzen, die an dieeine Gefährtin dann doch gedacht sind. Oh weh.
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Foto: Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. 559 S., 28 Euro.


RZÄHLUNG
Die Geografie der Träume
 
VON IRIS RADISCH | © DIE ZEIT, 10.01.2008 Nr. 03
Peter Handke erzählt in seinem neuen Buch »Die morawische Nacht« das große Zaubermärchen seines Lebens
 
Peter Handke lässt in seinem neuen Buch einen »abgedankten Autor« zu Wort kommen
© AFP/Getty Images  
Eine der wichtigsten Unterscheidungen in der Literatur ist die zwischenden Ein-Buch-Schreibern und den Viel-Buch-Schreibern.Viel-Buch-Schreiber gibt es wie Sand am Meer. Das Viel-Buch-Schreibenist die übliche, allgemein verbreitete literarische Praxis. DieEin-Buch-Schreiber, die ihr ganzes Leben lang Buch für Buch an einemeinzigen großen Lebensbuch schreiben, sind eher selten. Zu ihnengehören auffallend viele österreichische und französischeSchriftsteller und Schriftstellerinnen. Zu ihnen gehört auch der inFrankreich lebende Österreicher Peter Handke.
Das neue, 560 Seiten lange Buch Die morawische Nacht von Peter Handkeist deswegen kein wirklich neues Buch. Die lange Erzählung einer Bus-,Flug- und Fußreise durch Europa auf den Spuren seines eigenen Lebensund Schreibens ist vielmehr, was leicht vorauszusehen war: eineFortsetzung seines Lebensbuches, zu dem bereits die vorangegangenenKapitelLangsame Heimkehr, Die Wiederholung, Versuch über die Jukebox,In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem Haus, Mein Jahr in derNiemandsbucht und Der Bildverlust gehören.
Ein Ende oder Ziel dieses Lebensbuches ist nicht abzusehen. Um»Fortschritte« im gebräuchlichen, also abendländischen Sinn des Wortesscheint es dabei nicht zu gehen. Wenn es überhaupt ein Ziel gibt, dannist es allenfalls die Fortsetzung, das Weitererzählen selbst.Möglicherweise geht es dabei auch ein wenig – es handelt sich bei denEin-Buch-Autoren schließlich vorwiegend um solche des katholischenKulturraumes – um das Weitersprechen der Litanei.
Damit ist noch nicht viel gesagt, aber vielleicht doch dasEntscheidende. Denn auch darin ähneln sich alle genannten Bücher vonPeter Handke: Ihre jeweilige (und von Buch zu Buch immerhalsbrecherischere) Erzählkonstruktion ist nur ein Vorwand für ein –von jedem schwer verdaulichen realistischen Erzählstoff weitgehendbefreites – Vor-sich-hin-Erzählen, Vor-sich-hin-Räsonieren undVor-sich-hin-Zaubern. Orte, Namen, Landschaften und Figuren – diegesamte irdische Dekoration verblasst in Peter Handkes Büchernangesichts dieses Willens zum reinen, auch rein absichtslosen Erzählen.
Der Preis dafür ist eine gewisse Unschärfe. Leser und Autor sindderartig mit den nahen Einzelheiten der sogenannten »nebendraußen«liegenden Welt beschäftigt, dass ein umfassendes Bild sich nichteinstellt. Der Karst, das spanische Hochplateau, die balkanischeEnklave – die alten Stammgebiete der Bücher Peter Handkes kommen auchin diesem neuen wieder nur in der Miniaturaufnahme ausgesuchter underlesener Winzigkeiten ins Bild. Ihre Topografie, ihr Zeitkolorit, ihreEigengeschichte verschwinden im alles sich anverwandelnden Erzählstrom.
»Eine Geographie der Träume« nennt Handke dieses Verfahren, das ihm nureinmal Unglück brachte, als er seine viel bewunderte Geo-Poesie in derWinterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oderGerechtigkeit für Serbien im Balkankriegsjahr 1996 in den Dienstserbischer Geopolitik stellte. Mit der Morawischen Nacht will er sichvon dieser verstörenden Parteinahme verabschieden: »Schuldig gemacht,so noch immer seine Vorstellung, hatte er sich doch, indem er dasNationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig, mitspielte, bleibendschuldig. Und warum hatte er mitgespielt? Vielleicht, weil erseinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat an etwas wie eine andereNation glaubte, überhaupt an grundandere Nationen, und meinte, diemitverkörpern zu können.«
Die Welt ist flach. Alles Schöne ist verschwunden
Die neue Erzählung führt zurück in das während der Serbienreise vorzwölf Jahren gemeinsam mit den Reisegefährten Zlatko und Zarko besuchteserbische Dorf Porodin (100 Kilometer von Belgrad, 16 von Velika Planaentfernt), in dem Zlatkos Eltern, »nah dem Mittserbenfluß Morawa«,einen Weinbauernhof betrieben. Handke gefielen damals der »erztrübe wieklarschmeckende Eigenbauwein« und die »himmelaufweidenden Schafe«.
Der »ehemalige Autor«, Erzähler und Gastgeber in derMorawischen Nacht,lebt seit dieser Zeit in einem Hausboot auf der Morawa nahe Porodin,mitten in Serbien. Das Boot hat er – Ironie des Verzweifelten – mit»der übergroßen Flagge eines längst versunkenen oder abgestunkenenLandes ausstaffiert« und mit deren »ominösen Farben« bemalt. Hierresidiert er mit einer ihm ergebenen und angelegentlich verprügeltenGefährtin, die sich, als die Freunde zum »Nachtmahl« erscheinen, »außerspäter für das stumme Abräumen«, in die Küche zurückzieht –»Überbleibsel der sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten« undAusweis der vormodernen männerbündlerischen Sehnsüchte ihres wie eh undje gegenwartsmüden Bewunderers. Wie so oft bei diesem Autor der wahrenEmpfindung und der begriffsauflösenden Genauigkeit finden seineFrauengestalten auch in diesem langen Buch aus den abgenutztenRollenklischees als stumme Schönheit, Dienerin, Quartiermacherin,unschuldige, hingebungsvolle Leserin und »schönes junges Ding« nichtheraus.
Das Wort Serbien, Großserbien oder serbisch sucht man in diesem Buchvergeblich. Nur einmal ist von dem »Hirngespinst« eines»zusammenhängenden großen Landes auf dem Balkan«, dem nur noch dreiverlorene Nostalgiker nachhängen, die Rede. Das »versunkene Land« istnunmehr Teil eines umfassenden Kosmos des Ehemaligen und Verschwundenengeworden. Der »ehemalige Autor« teilt sich diesen Status mit soziemlich allem, was ihm auf seiner Reise begegnet, den stillgelegtenGehöften in Spanien, den verschwundenen Weinbergen in Serbien, denüberwucherten Obstgärten in Kärnten, dem wie vom Boden verschlucktenFischerdorf auf der Adria-Insel, den verlorenen Bildern (das war schondas große Thema des Romans Der Bildverlust) und den verlorenenGeräuschen (der Geräuschverlust und die »Lärmkrankheit« spielen indiesem Buch eine besondere, auch besonders anrührende Rolle). Einstigund ehemalig ist die halbe Welt, Opfer der Neuzeit und von derenVerwüstungen.
In der Urschrift seiner Moderne- und Kapitalismuskritik, der Lehre derSainte-Victoire aus dem Jahr 1980, zitiert Handke den Maler PaulCézanne mit den prophetischen Worten: Man müsse sich beeilen, wenn mannoch etwas sehen wolle. Alles verschwinde. Schon in einigen hundertJahren werde alles verflacht sein.
Dahin ist man in diesem Buch schon lange vor der geweissagten Zeitgekommen: Die Welt ist flach oder verflacht. Sie ist entzaubert. Sieist – dieser Analyse widmet Handke im neuen Buch einen langen Abschnittim mittelmäßig parodierten Zeitungsglossenstil – überall»mittel-europäisch« geworden. Immer wieder nennt der Erzähler sieeinfach »leer«. Sie hat keine Tiefe, keine Schönheit und keine»Balkanklarinetten« mehr. Auch keine Märchen. »Oder bestenfalls inBruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern« – das jedenfalls legtHandke dem »Zaubermärchenschreiber« Ferdinand Raimund, mit dem seinabgedankter Autor auf der Reise Zwiesprache hält, in den Mund.
Das alles wäre zum Verzweifeln. Wenn es nicht Peter Handke und seingroßes vielbändiges Lebenswerk der Wiedergutmachung gäbe. Seinewichtigsten persönlichen und beruflichen Stationen der Wiedergutmachungwerden in dieser nächtlichen Reiseerzählung auf dem Hausboot an derMorawa noch einmal abgeschritten. Die nächtliche Erzählung wird immerwieder unterbrochen von einem kecken »Zwischenfrager« und zeitweiligassistiert von den ehemaligen Reisegefährten, die alle in dieser Nachtzum letzten Abendmahl »gerufen« wurden und am Ende (so hochkomplex unddreimal um die Ecke gedacht geht es zu in märchenloser Zeit) auch dieschriftliche Nacherzählung dieser mündlichen Erzählung besorgt haben.Wer hierbei an die Jünger Jesu und das nachträgliche Verfassen derEvangelien denkt, muss nicht ganz falsch liegen.
Bitte nicht noch einen Orakelsprecher, nicht noch ein schaukelndes Kamel!
Alle bekannten Ärgernisse und Freuden des Handkeschen Erzählens derletzten Jahrzehnte begegnen einem in diesem Buch wieder. Das sorgsaminszenierte Stottern, das Verzögern, Fragen, Nachstoßen, die höhereUmstandskrämerei, das selbstironische Dazwischenfahren, diehochfahrenden Ansprachen wie auf dem Literatur-Parteitagsgelände, diestets rechtzeitig ins Possierlich-Abstruse oder Fantastische abbiegen.Aber auch die Strohfeuer der immer noch anheimelnderen Formulierung,der noch runderen Sprachrundung, des noch archaischeren Sprachbildes,die überall im kalkuliert durchgestylten Text wie kleineKunst-Sprachwärme-Öfchen flackern und Wärme, Geborgenheit und Idyllesimulieren, wo es erklärtermaßen nichts mehr zu simulieren gibt. MancheSprachprovokationen zielen umstandslos ins gutbürgerlich Gediegene,andere ins Ding-Sprachliche und feierlich Naive.
Sympathisch an diesem gezierten Erzählen ist durchweg seineVielstimmigkeit, Uneinheitlichkeit und Verspieltheit. Das Störrischesteht unverbunden neben dem Kitsch, das Parodistische neben demPathetischen, die mutwillige Übertreibung neben dem schönen Leichtsinn,das Peinliche neben dem Bezaubernden. Nichts ist mehr ganz und sprichtmit einer Stimme – deutlicher, auch kunstvoller kann man dieseVerlustanzeige nicht aufgeben.
Die Reise führt per Bus quer durch Serbien zu einem (natürlichverschwundenen) serbischen Friedhof, dann auf die kroatische InselCordura (im wahren Leben Krk), wo der Autor seinen ersten Roman (DieHornissen) verfasst hat. Hier erinnert er sich der alten Zeit, triffteine ehemalige Geliebte wieder, die inzwischen zur Bettlerin gewordenist. Im spanischen Numancia nimmt er an einem Kongress über dieerkrankten und irre gewordenen Geräusche teil (»der Schrei einesEichelhähers ahmt, scheint es, das Zerreißen einer Alufolie nach«),trifft einen alten Steppenwandergefährten und erinnert sich daran, dortein zweites Buch geschrieben zu haben.
In Deutschland (»ein friedlicheres Land als dieses sollte er nichtdurchwandert haben«) besucht er das Grab seines kaum gekannten Vatersund lässt sich dort von einem in ein altes Weib verzaubertenSchmetterling als »verdammter Vaterloser« beschimpfen. In Österreich,wo er sich über die »ganz ungewohnte Souveränität« freut, die womöglichauf ein neues »drittes Europa« vorausdeutet, freut er sich an derBeschaulichkeit des Kleingärtnerwesens in den Donauauen. Wunderbar sindseine Miniaturen des Vorortlebens: die »Mausefallen auf derVerandabrüstung«, das »Riesenthermometer an der Hauswand, mit fehlenderQuecksilbersäule«, der »verwitterte, zerbrochene Pinsel im Staub, mitstarrverklebten Borsten«, der »Hackklotz ohne Hacke, zerfranst undzerschlissen wie nur ein Hackklotz«, aus denen sich die Anwesenheit derBewohner als »Umriß in der grauen Ostwindluft« erahnen lässt. Hiertrifft der ehemalige Autor seine ehemaligen Romanfiguren und nimmt aneinem »Weltmaultrommeltreffen« in einem ehemaligen »Gasthaus derNamenlosen« teil.
Das alles ist so karnevalesk und traumwandlerisch, dass man sich dochschon wieder in einem dauerhaften und nicht bloß in einemSekunden-Märchen zu befinden scheint. Doch anders als im echtenMärchen, mit seinen grausamen und unbezwingbaren Geboten, ist imHandke-Märchen alles möglich und wie in der Computeranimationvollständig widerstands- und folgenlos. Am Ziel der Reise, demKindheitsdorf, hat das blumenkinderhafte Delirieren seinen Höhepunkt.Asiaten, Mongolen und »Muldenheilige« campieren im Bombentrichter des»ehemaligen« Obstgartens, tote Ahnen und ein »ehemaliger«Lehrbeauftragter für Weltliteratur spuken über die »Alte Straße« zumDorf. Im Keller des Mutterhauses hat sich eine Krypta aufgetan, in dersich die Fernfahrer, die Einheimischen und die muslimischen Zugezogenenzum Gebet versammeln.
Das klingt so furchtbar, wie es ist: Das Wunderbare und das Wunder, diealten Waffen der Literatur gegen den Materialismus und denkurzsichtigen Vernunftglauben, büßen durch einen derartig übermäßigenGebrauch ihre Kraft ein. Peter Handke mag in seinem schönen Bemühen,die entzauberte Welt wieder zu verzaubern, immer mehr und immererstaunlichere Märcheneffekte aufeinandertürmen – durch die bloßeSteigerung und endlose Addition dieser Effekte stellen sich dieerwünschte Himmelfahrt und die auch in diesem Buch vielfach beschworene»Entrückung« nicht ein. Eher Langeweile und ein gewisserMärchenüberdruss. Bitte jetzt nicht noch eine herumspukende Großmutter,nicht noch einen herbeiflatternden Orakelsprecher, nicht noch einvorbeischaukelndes Kamel!
Vor lauter Budenzauber übersieht man dann leicht das Herzstück dieserErzählung: die Rede der toten Mutter im Traum. Sie spricht ihrenverlorenen Sohn los von jeder Schuld, nicht zuletzt von der an ihremTod (Handkes Mutter hat im Jahr 1971 Selbstmord begangen), und bittetum Erbarmen, »genug der Selbstmarter und des Marterns der anderen«.Befreit von der Last der toten Mutter, befreit von der Last desNationaldichtertums und der Liebe (für die er sich allerdings noch niebesonders interessiert hat), befreit von allem, kehrt der abgedankteAutor nach Hause zurück, wo er nichts und niemanden mehr vorfindet. DerAutor ist, was er schon immer war: mit sich allein.
Eine lange Reise zu sich selbst liegt hinter ihm. Wir haben allen Grundanzunehmen, dass es ihm danach gut geht. Auf den letzten Seiten sehenwir ihn friedlich, von herbeieilendem Himmelsgeflügel umflattert.Sicherlich schreibt er schon wieder. Immer weiter an diesem endlosenBuch seiner selbst, das jetzt nur vorübergehend von der Bildflächeverschwindet.
Peter Handke: Die morawische Nacht
Erzählung; Suhrkamp Verlag, 2008; 560 S., 28,- €
•    SCHLAGWORTE:


ITERATUR
Der übermütige Unglücksritter  
TRIUMPH EINES DICHTERS: Eben erst 65 geworden, ist der österreichischeSchriftsteller Peter Handke so präsent wie lange nicht. Der"Publikumsbeschimpfer" von einst: fast schon ein Klassiker zuLebzeiten. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach erwarb seineNotizbücher, die Österreichische Nationalbibliothek seineWerkmanuskripte - die Notizbücher, die der SPIEGEL einsehen konnte,bieten ebenso extreme wie intime Lebensspuren. WichtigsteHandke-Novität aber ist seine große, bizarre, selbstironische Erzählung"Die morawische Nacht".
In der Erzählung "Die morawische Nacht" zieht Peter Handke das Fazit eines Dichterlebens.
Ein erledigter Fall? Von wegen. Eher lässt sich sagen: So viel Handkewar nie. Zu Beginn des neuen Jahres ist der Österreicher alsSchriftsteller präsent wie kaum jemals seit seinem rasanten Start alsJunggenie Mitte der sechziger Jahre ("Publikumsbeschimpfung").
Im Dezember feierte Peter Handke seinen 65. Geburtstag. Pünktlich zudiesem Datum ist er mit einer Rowohlt-Monografie geehrt worden. Erselbst überließ der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien vieleManuskripte seiner Werke (darunter "Mein Jahr in der Niemandsbucht",1994, "Don Juan", 2004, und "Kali", 2007); ein Konvolut seinerNotizbücher hat er hingegen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbachgegeben, wo es für Forschungszwecke eingesehen werden kann (siehe Seite143). Auch zwei Bücher mit bekannten, aber bisher verstreuten Textensind noch Ende vergangenen Jahres erschienen: die Gedichtsammlung"Leben ohne Poesie" und die Essaysammlung "Meine Ortstafeln, MeineZeittafeln" (mit Aufsätzen aus den Jahren 1967 bis 2007).
Und in dieser Woche nun kommt eine neue Erzählung mit dem Titel "Diemorawische Nacht" hinzu, eine verspielte, weitgehend autobiografischeSumme seines Lebens als Schriftsteller: Handkes großangelegter Versuch,die eigene Position poetisch zu bestimmen und zu verteidigen*.
Dabei geht er unorthodox vor. Wenn es gilt, sich und die eigene Lebensform zu verhöhnen, so macht ihm keiner etwas vor.
Als wollte er einen Katalog der Vorwürfe und Einwände anlegen, die gegen
ihn schon laut geworden sind, zählt er
seine vermeintlichen Schwächen auf: "Daß er allein dem Abseitigennachgegangen war. Daß er die Augen geschlossen hatte vor der Realität... Schicksale, Charaktere, Aktionen: nichts für ihn." Selbst dieErotik: "Für ihn kein Thema".
Und so geht es weiter: "Nirgends zeigte er ein Herz für seineZeitgenossen. Dafür begeisterte er sich an einem Glühwürmchen, einemIgel, einem Bach mit einem Stück Glimmer am Grund ... einer Kuhflade,einem Kinderhaarwirbel, einem Mergelrot, einem Quittenblütenweiß. Undentsprechend abseitig er selber." Fazit: "Auch die Gutgesinnten müssenAngst um diesen Unglücksritter haben."
Lässt es sich besser formulieren? Aber ist hier denn überhaupt vonPeter Handke die Rede? Nein, nicht direkt. Gegenstand dieser Attackenist vielmehr der Held der neuen Erzählung, ein namenloserSchriftsteller, der - im Gegensatz zum Verfasser der "MorawischenNacht" - mit dem Schreiben längst aufgehört hat.
Das ist der Clou der Erzählung, der doppelte Boden: Freier noch als inseinen früheren Büchern über das Schriftstellerleben - in demknapp-konzisen "Nachmittag eines Schriftstellers" (1987) oder seinemvoluminösen "Jahr in der Niemandsbucht" - kann Handke hier mit denVersatzstücken der eigenen Vita umspringen. Und mit der Fiktion, derVerlockung spielen: mit dem Schreiben aufzuhören.
Es scheint ihm viel Spaß gemacht zu haben, den "Verzicht aufgleichwelche Veröffentlichung" zu beschwören. Immer wieder findet erfür seinen Helden neue Bezeichnungen, der mal als "Ex-Autor", mal alsder "abgedankte Schreiber", der "ehemalige Autor" oder der"Autor-in-Ruhe" erscheint.
Der Grund für dessen Abkehr vom Schreiben? Eine ins Unermesslichegesteigerte Lärmempfindlichkeit. Irgendwann hat dieser Mann nichteinmal mehr das Rascheln des Bleistifts auf dem Papier ertragen können,ja sogar einen Hautausschlag bekommen, "wenn er ein Blatt Papier, vorallem ein leeres, berührte, und sogar schon bei einem bloßenPapierknistern".
Aber erzählen kann er noch, möchte er sogar. Was ihm also bleibt: dermündliche Bericht. Der Ex-Schreiber lädt eine kleine Gruppe vonZuhörern zu sich ein (sieben Männer): auf sein Boot, das auf der Morawaschwimmt, zwischen der Stadt Velika Plana und dem Dorf Porodin,südwestlich von Belgrad. Dort jedenfalls befindet sich der Liegeplatz,als die Gäste in einer Aprilnacht eintreffen.
Handkes Held und Alter Ego (oder auch: Alternativ-Ich) lebtzurückgezogen auf diesem kleinen Hotelschiff mit dem Namen "MorawischeNacht", das sonst keine Gäste empfängt und "mit der übergroßen Flaggeeines längst versunkenen oder abgestunkenen Landes" (also wohl derjugoslawischen) ausstaffiert ist. Hier, an Bord, beginnt eine langeErzählnacht.
Die Morawa in Serbien ist einer jener vier Flüsse, zu denen einst die"Winterliche Reise" geführt hatte, die Handke unter dem Titel"Gerechtigkeit für Serbien" 1996 beschrieben hat: in einem seiner wenigüberzeugenden Versuche, der Öffentlichkeit einen anderen, seinen Blickauf die Zersplitterung des ehemaligen Jugoslawien nahezubringen.
Ausgerechnet von hier aus - so viel Selbstironie und wohl auch Trotzmuss sein - ist sein Held, der "Wanderer", zu einer Rundreiseaufgebrochen, die ihn quer durch Europa geführt hat und von der er nun,wieder auf seinem Boot, den Gästen berichten will: in Anwesenheit einergeheimnisvollen Frau, die mit ihm dort zu wohnen scheint und die Männerbewirtet.
Überliefert wird sein Bericht von dieser Rundreise, der "Rund- undZickzackreise", durch ein kollektives Wir (das sich nur gelegentlich ineinzelne Ich-Stimmen auflöst), durch "seine Zuhörer, seine (mehr oderweniger) Freunde". Die Gäste kommentieren dabei auch die Art desErzählens, des Sprachgebrauchs. Als der Bootsherr einmal davonberichtet, dass eine Tafelrunde drei Tage und drei Nächte gewährt habe,heißt es sogleich: ",Währen', solche Wörter unterliefen ihm, der schonlange fern der aktuellen Sprache lebte."
Und die Zuhörer sind keineswegs nur Beifallspender, sie fragen sichsogar zwischendurch, ob vielleicht doch stimmt, "was die ganzeneuropäischen Zeitungen zuerst prophezeit und in der Folge berichtethatten: daß der alte Freund auf dem Weg war, endgültig verrückt zuwerden".
Die Route dieser Reise zeigt, dass Handke mit der "Morawischen Nacht"eine Art Lebensbilanz anstrebt, oft genug voller Selbstironie undÜbermut. In zwölf Kapiteln spürt er wichtigen biografischen Stationen,gewissermaßen seinen europäischen Wurzeln nach. Da geht es mit dem Buszunächst unter widrigen Umständen (Steinewerfer am Wegesrand) ein StückRichtung Belgrad, dann mit dem Fährboot auf eine Insel, die hierCordura heißt und auf der der "abgedankte Autor" sein erstes Buchgeschrieben hat - tatsächlich entstand vor gut vier Jahrzehnten auf derjugoslawischen Insel Krk Handkes erster Roman "Die Hornissen" (1966).
Weiter führt die Reise über Spanien nach Deutschland, in den Harz, zumHerkunftsort des "nie gekannten Vaters", und nach Österreich, dem"Heimatland", wo der kranke Bruder zu besuchen ist, der sich dann nochgut daran erinnern kann, wie der ehemalige Autor als Jugendlicher mitersten Schreibversuchen die Familie tyrannisiert habe: "Keinen Muckshatten sie machen dürfen. Hustete bloß einer von
ihnen, oder schrammte ein Stuhl, so brüllte er schon um Ruhe."
Hier gehen Dichtung und Wahrheit ein munteres Verwirrspiel ein. Handkeselbst hat seinen leiblichen Vater, einen Deutschen, durchauskennengelernt, und es war seine Halbschwester, die sich einmal ganzähnlich über den schreibenden Anfänger Handke geäußert hat, der"herrisch die Familie zwang, seine Selbstzweifel und Arbeitsqualmitzuleiden".
"Die morawische Nacht" ist das bisher raffinierteste von HandkesBüchern über das Erzählen, das Schreiben und Schreibleben. Noch niezuvor ist er derart mit sich ins Gericht gegangen. Im Rahmen derFiktion wird auch der Umgang mit Frauen zum Thema. Nur einmal nämlich,mit der ersten Freundin auf der Insel Cordura, hat der Ex-Autor dasSchreiben und die Liebe zugleich ertragen: "In späteren Jahren wurdedas anders. An dem Zwiespalt, als Beruf den des Schreibers, oderAufschreibers, auszuüben, ausüben zu sollen, und andererseits Liebhaberoder Geliebter zu sein, war dann nichts mehr zu genießen. Es war eineSchuld. Es war die Schuld. Beides zusammen, das war dieStrafwürdigkeit."
Die Überzeugung des armen Mannes: Das Schreiben verlange "ein Lebenjenseits der Geschlechterliebe". Ja, der ehemalige Autor berichtetseinen Gästen sogar die Geschichte von der Frau, "die er einmal fasttotgeprügelt hätte". Als die ihn wiederholt beim Schreiben gestörthabe, sei es eines Nachts dazu gekommen, dass er "auf die Frau, ohnesie überhaupt anzuschauen, losstürzte und auf sie einprügelte".
Was immer daran autobiografisch gefärbt sein mag: Eine ehemaligeFreundin, die Schauspielerin Marie Colbin, hat einmal öffentlich übereinen Gewaltausbruch Handkes geklagt: "Ich höre noch meinen Kopf aufden Steinboden knallen. Ich spüre wieder den Bergschuh im Unterleib..." Vor allem Schauspielerinnen sah man an der Seite desSchriftstellers, von Libgart Schwarz über Jeanne Moreau, Sophie Seminbis zu Katja Flint.
Und eines teilt der reale Handke ganz gewiss mit seinem fiktivenEx-Kollegen im Buch - das Bedürfnis, völlig auf sich gestellt zu sein,die Welt als Einzelgänger zu betrachten, und zwar im wörtlichen Sinn:als jemand, der sich dem Gehen und oft ziellosen Herumreisen überlässt;zwischendurch auch einmal eine Strecke mit dem Zug oder Flugzeug.
Und so heißt es dann etwa: "Es war noch mitten am Tag, und die Sonneschien, die Sonne des Zeithabens. Sich sonnen in ihr: und so beschloßer, vom Flughafen zu Fuß aufzubrechen, irgendwohin in das Land, sichleiten lassen, ohne vorgefaßtes Ziel", geleitet "von den Straßen, denWegen, dem Querfeldein, den Horizonten".
Das Gehen, hat Handke einmal gesprächsweise formuliert, sei heute daswirkliche Abenteuer, "das Gehen querfeldein durch die Städte durch, vonder Vorstadt in die Stadt, zur großen Stadt wieder zu Fuß hinaus". Wäreseine umfangreiche Erzählung über weite Strecken nicht gar sogrüblerisch und angestrengt ausgefallen, sein Buch könnte durchaus HapeKerkelings Dauerbestseller "Ich bin dann mal weg" Konkurrenz machen.
Denn bei aller Schwermut und Selbstqual hat "Die morawische Nacht" auchganz nüchterne Seiten, etwa wenn der Wanderer überlegt, "daß es an derZeit wäre, die von dem nachtlangen Weg schlammigen Gehstiefel zuputzen, daß er möglichst bald einen Geldautomaten finden mußte".
Die Gewohnheit, sich während der Reisen Notizen zu machen, hat HandkesHeld freilich abgelegt. Nur ein einziges Mal unterläuft es ihm, "daß ersein kaum mehr benütztes Notizbuch hervorzog, wie um nach längstabgetaner Gewohnheit mit all diesen kleinen Begebnissenmitzuschreiben". Aber unschwer ist zu erkennen, dass manche Passagedieses Buchs aus ebensolchen Handke-Notizen stammt, schlichte Reihungenscheinbar zufälliger Beobachtungen, wie etwa diese: "Ein Fahrrad fielum. Eine Frau hatte graugrüne Augen. Ein Mann hatte auf der Wange eineNarbe, die kein Schmiß war. Ein Zweig federte von einem daaufgeflogenen Vogel. Der Rest einer Zeitung ragte aus einem Kanalgitter... Ein Türke und ein Asiate sprachen miteinander im österreichischenDialekt."
Obgleich nicht im engeren Sinne rea- listisch, ist Handkes Buchbemerkenswert welthaltig und gegenwartsbezogen. Aber, unter Freunden,eine gewaltige Luftnummer ist das Ganze eben doch: eine Nummer auf demliterarischen Hochseil, artistisch und wagemutig ausbalanciert, stetsabsturzgefährdet. Und manchmal ein wenig anstrengend.
Es folgt schließlich noch ein letztes, ein 13. Kapitel. Da löst sich,am Ende der Nacht, alles auf, keine Spur von einem Schiff, vonZuhörern, einer Frau, nicht einmal von dem erträumten Buch. Und imMorgengrauen fragt sich ein einsamer Erzähler gar: "Was hatte er bloßbei den Verlorenen auf dem Balkan zu suchen gehabt?" Darauf gibt eszwar keine Antwort, aber es gibt doch dieses eindrucksvolle Buch, dasnicht über Nacht entstanden ist, sondern von Januar bis November 2007.VOLKER HAGE
* Peter Handke: "Die morawische Nacht". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 564 Seiten; 28 Euro


Peter Handke
 

    Die morawische Nacht.
Erzählung.
 
Als der Schmerz nachließ –
– und das Erzählen einsetzte:
Das waren noch Zeiten.
Das war die Zeit.
(Spuren der Verirrten)
Es wird bereits Nacht, als sich sieben geladene Gäste auf einemHausboot auf der Morawa, einem Zufluss der Donau, einfinden, um derErzählung des Gastgebers zu lauschen, der Erzählung einer Reise ansEnde der Nacht.Samara sollte dieses neue Werk Peter Handkesursprünglich heißen, samara, das bedeutet "die Nacht im Gesprächverbringen."
Tiefblau ist der Umschlag dieses "nächtlichen Buches". "Nicht wenigesolcher nächtlicher Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebensverfasst, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. Innichts? Wirklich?"
Nein, "das Buch gab es irgendwo." Und es erzählt dir eine langeGeschichte eines Unterwegsseins, einer europäischen Rundreise, dochohne Namen, "Namen tun nichts zur Sache", ohne dramatische Situationen,ohne Charaktere, dafür voller "Traumstoffgestalten", voller "zitternderknisternder (...) Sekunden", die "das Gefühl für das Dasein" zeitigen.
"Das Buch von deiner europäischen Rundreise: Ich werde es schreiben. Esist zum Großteil schon geschrieben, fertig, bevor du aus deinerMorawischen Nacht überhaupt aufgebrochen bist." höhnt Melchior, der"schreibende Arrangeur", den der Erzähler auf seiner Wanderung trifft:"Und du, mein Teuerster: auf den Müllhaufen mit der Geschichte mit dir.(...) Wenn es einmal hieß, Dichten gleich Bildermalen, so heutzutage:Büchersprache gleich Journalsprache." Und tatsächlich sollte Melchiorseine Drohung wahr machen, noch auf der Rückfahrt fällt der Blick desErzählers auf einen Zeitungsartikel über seine Rundreise, die laut demZeitungsschreiber nichts weiter war als eine Flucht vor sich selber."Dass er allein dem Abseitigen nachgegangen war," wirft er demReisenden vor.
Na, und wenn schon. "Hatte er auf diese Weise nicht auch seine Büchergeschrieben? 'Nie was von Utopia gehört?' " kontert der nächtlicheErzähler. Trotzdem regen sich auch bei ihm Zweifel: "Den Dichterberuf,gab es ihn weiterhin?" Seinerzeit war er "bedürftig gewesen nach demAugenblick der Poesie". Er hatte "ihn von den eigenen Rändern oderGrenzen lautlos zurückgerufen in die Mitte des Lebens – zurück zurProsa – zum Prosaschreiben." Handke, der Dichter der entzauberten, derun-heimlichen Welt, er sehnt sich zurück nach der Heimlichkeit: "zeigmir den Ort, wo du verborgen bist!" Seinerzeit hatte er ihn in derDichtung gefunden, in der Einsamkeit, dem Unterwegssein, den Träumen,alles Enklaven, allesamt "Flucht- und Trutzburgen" gegen dieUnheimlichkeit der Wirklichkeit, der Handke die Heimlichkeit desErzählens entgegensetzt, das genuin Poetische, das Märchenhafte,Erträumte, Unerhörte, "Klein-kleine", das Abseitige, das Leben: "Leben,leben!" Nicht zuletzt von solch einer Rückkehr zum Leben, zum Dichten,erzählt dieses Buch. Der Weg dorthin ist weit, voller Umwege undVerzögerungen. Doch, "so war es beschlossen, so war es gedacht."
Aus einer (serbischen) Enklave (im Kosovo, wie der Leser in Gedankenergänzt), macht sich der ehemalige Autor in einem Emigrantenbus aufnach Westen, auf eine Rundreise quer durch Europa. Sie führt ihn anseine ehemaligen Schreiborte, in das Schreibdorf auf Krk, hierverborgen hinter dem phantastischen Namen Cordura, wo er, damals nochMöchtegernschriftsteller, seiner ersten Freundin begegnete und dadurchauch erstmals zum Betrüger wurde, an ihr und an dem "erträumten,tagtäglich zu erträumenden Buch". Denn Schreiber, Aufschreiber undzugleich Liebhaber und Geliebter zu sein, "beides zusammen, das war dieStrafwürdigkeit. Entweder Oder." Wenn er ein Schreiber werden wollte,musste er sich heraushalten, sich mit der Nichtzugehörigkeit, demAusgestoßensein verbünden. Ja, er hatte "ein Dritter zu sein, und nichtTeil eines Paares."
Doch seitdem war viel Zeit vergangen, der Erzähler hatte sich vonseiner "Autoren-, seiner Aufschreibzeit" losgesagt. Zu schwer hatte dieSchuldhaftigkeit seines Poetenlebens auf ihm gelastet, und so hatte ersich davon befreit: "er musste nicht mehr schwindeln, nicht mehrverraten. Er war aus dem Gesetz, dem furchtbaren, süßen, entlassen."Und mit seinem selbstgewählten Scheitern als Autor fühlt er sichendlich bereit "für eine, für die Frau." Eine Liebesgeschichte würde erschreiben, so prophezeiht es ihm der spanische Dichter Juan Lagunas.Und tatsächlich sollte sie eintreten, die Liebesgeschichte, als"unerhörte Begebenheit", im Zusammentreffen zweier "Waisenkinder", desehemaligen Autors und der geheimnisvollen Frau, die auch in der Nachtder Erzählung zugegen ist.
Doch bevor sie gemeinsam auf das Boot, die "Morawische Nacht",zurückkehren können, muss der Ehemalige seine Wanderschaft wie"geträumt, gedacht, geplant" fortsetzen. Sie führt ihn nachDeutschland, "In die Gegend des Vaters und der väterlichen Vorfahren",die er, der "Vaterlose Gesell", der "Prinz von Nirgendwo" nur vomMutterwort her kannte. Und von dort weiter in sein GeburtslandÖsterreich, das ihm "zum Feind geworden war", wo er nun aber seinenBruder besuchen will, sowie seine ehemaligen schriftstellerndenWeggefährten Filip Kobal und Gregor Keuschnig, die der Handke-Leser ausDie Stunde der wahren Empfindung und Die Wiederholung kennt. Auch seineverstorbene Mutter aus Wunschloses Unglück erscheint ihm im Traum undspricht ihn endlich los von der Last seiner Schuld: "Du bistunschuldig, du dummer Kerl."
Ja, so führt diese Rundreise nicht nur quer durch Europa, sondern auchquer durch Handkes bisheriges Schaffen, durch sein Leben und Schreiben,das bei ihm verbunden scheint durch ein drittes: durch die Lebenssuche,die Suche nach der wahren Empfindung. Die morawische Nacht ist eineErzählung über das fortwährende Unterwegssein als beides –Antrieb undZiel des Schreibens, eine Erzählung über das Erzählen, über die Lebenspendende Kraft des Erzählens. Geprägt von Handkes Subjektivität,ichbezogen, wie immer, doch nicht nur; in diesem Werk reflektiertHandke nicht nur sein eigenes Schreiben, sondern auch die Reaktionender Öffentlichkeit. Klug, sprachgewaltig, nachdenklich, doch auchwunderbar ironisch befragt Handke seine Rolle als Dichter, alsöffentliche Figur, als die er sich durch seinen Einsatz für Serbien insAbseits befördert hat. Passend zum aktuellen politischen Anlass, derUnabhängigkeitserklärung des Kosovo, nimmt er in diesem Buch Abschiedvon seiner "Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängendengroßen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa."
Unverkennbar sein Ton, seine mäandrische, ausufernde, stammelnde,zögerliche, sich selbst befragende Erzählweise, unfähig, mit seinenSätzen "in medias res" zu gehen, angestachelt nur durch die Gefahr –Welche? – der Verfolgung durch die Leserin? Des Stillstands? DerEntrücktheit? Die das Lesen ersetzt, erübrigt? Und ihn zwar der "Lastdes eigenen Ich" enthebt, jedoch jedes Erzählen bedroht, das ja ein"beständiges rhythmisches Fort-und-Fort" sein muss?
"Gibt es noch Märchen zu erzählen wie die deinigen?", fragt derErzähler bang den Wiener "Zaubermärchenschreiber" Ferdinand Raimund."Nein. Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekundedauern." Und Die Morawische Nacht ist ein solch wunderbares Märchen desverwandelnden Augenblicks, es schenkt dem Leser "Ermutigung, Trost,Furcht und Bezauberung, kurz, alles was ihr wollt, und vielleicht auchjenen flüchtigen Augenblick der Wahrheit, nach dem zu fragen ihrvergessen habt" (Joseph Conrad)
Martina Wunderer
4. März 2008
Originalbeitrag
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung
Ein Spiel? Der Wolf im Schafspelz
Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht"
Von Peter Mohr
  Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Ursprünglich sollte Peter Handkes opulentes Erzählwerk densinnstiftenden Titel "Samara" tragen, was aus dem Arabischen übersetzt"eine Nacht im Gespräch verbringen" bedeutet. Genau dies geschiehtnämlich auch in der Rahmenhandlung. Ein gealterter Autor, der mit demSchreiben aufgehört hat, versammelt auf einem Hausboot einige Freundeum sich und lässt mit ihnen gemeinsam sein Leben Revue passieren. DasBoot trägt den Namen "morawische Nacht" und liegt auf der Morawe -einem Donau-Nebenfluss, der sich durch Serbien schlängelt - vor Anker.
Diese Figur des Ich-Erzählers weist so auffällige Parallelen zu Handkeseigenem Lebensweg auf, dass schon wieder Vorsicht geboten ist, denn dereigenwillige Autor hat alles andere als eine Autobiografie im Sinngehabt. Begegnen wir hier einem geläuterten, milde gestimmten alterego, das mit seinen Zuhörern, die wie ein verschwörerischer Geheimbundbeschrieben werden, über seine Lebens-Odyssee parliert?
Die Gedankenreise führt uns an viele Orte, die in Handkes Leben einewichtige Rolle spielten - auf die kroatische Insel Krk, wo er seineerste große Liebe erlebte und seinen Debütroman "Die Hornissen"verfasste; ins spanische Numancia, wo wir an einem Kongress zum Thema"Akustik der Stille" teilnehmen; in den Harz und an das dortige Grabseines leiblichen Vaters, in den Geburtsort in der Steiermark und nachWien, wo der Weltkongress der Maultrommelspieler stattfindet.
Die erzählerische Reise hat einen stark besinnlichen,selbstreflektierenden Charakter. Es klingt gerade so, als wolle derIch-Erzähler (oder eben auch Handke selbst) zerschlagenes Porzellanwieder kitten. Der Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien wird alsirreversibles historisches Faktum angenommen. Angesichts von Handkeslangjähriger Affinität zum serbischen Diktator Slobodan Milosevic, aufdessen Beerdigung er eine Rede hielt, eine sonderbare Wandlung. Dielebenslangen Probleme des Autors mit den Frauen (zu HandkesLebensgefährtinnen gehörten unter anderem die Schauspielerinnen LibgartSchwarz, Katja Flint und Jeanne Moreau) werden auf erzählerische Weiseabgearbeitet, wenngleich dieser Erklärungsversuch wenig plausibelklingt. Demnach vertragen sich Literatur und Liebe nicht, da die Frauenstets ein Hindernis beim Schreiben dargestellt hätten.
Am poetischsten ist dieses Buch, wenn Handke seinen Ich-Erzähler aufdessen Erinnerungsreise mit Dialogpartnern konfrontiert - mit demWiener Dichter Ferdinand Raimund und mit der ebenfalls längstverstorbenen Mutter. Auch diese meta-fiktiven Dialoge sind von einemäußerst versöhnlichen Duktus getragen. "Genug der Schuld und derSchuldsuche" herrscht die Mutter den Ich-Erzähler an, und als leisenHintergrundton hört man Handkes Mutter-Roman "Wunschloses Unglück"mitschwingen.
Überhaupt gibt es reichlich Querverweise auf das eigene Œuvre. Sotauchen auch Gregor Keuschnig und Filip Kobal - die Protagonisten aus"Die Stunde der wahren Empfindung" und "Die Wiederholung" - in derlangen Gesprächsnacht auf. Trotz all dieser erzählerisch-essayistischenNähe zum eigenen Werk, die bisweilen wieder haarscharf an die Grenzedes Narzissmus reicht, bietet Peter Handke aber auch absolut neue Töne.Mit einer gehörigen Portion Selbstironie begegnet er seinemIch-Erzähler, den er mal als "Dorftrottel", mal als "abgedankten,durchgedrehten" Autor bezeichnet.
Was hier als selbstkritisches Reflektieren mit stark versöhnendemAnstrich daherkommt und wie eine Suche nach Anerkennung, Nähe undemotionaler Geborgenheit klingt, lässt sich allerdings auch alshumorvolle Replik auf die vielen Kritiker lesen, von denen sich Handkeoft missverstanden fühlte. Hat er gar eine falsche Fährte ausgelegt,hat uns selbst eine weichgespülte Handke-Light-Version geliefert? Hatsich der literarische Wolf einen massenkompatiblen Schafspelzübergestülpt? Oder doch der Beginn eines milden Alterswerkes? Am Endeerweist sich diese ellenlange und teilweise äußerst unterhaltsame (dasist für Handke eher atypisch) Erzählung als Tagtraum eines Städters,der an seinem Schreibtisch das "Tosen der Balkanautobahn" als "Ratternvon Vorortzügen" entlarvt.
Als Handkes Ich-Erzähler dem Wiener Biedermeier-Dichter FerdinandRaimund begegnet, befindet dieser (und dies trifft auch auf PeterHandke und seine "Morawische Nacht" zu): "Du aber - du aber bistvielleicht ein Spieler."

 

 

 
Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
561 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518419502



Ein dunkler Morgen, wie geschaffen zum Aufbrechen
Einen solchen Peter Handke gab es noch nicht: Die „Morawischen Nacht” ist die Erzählung einer rigorosen Selbstprüfung
Der Bus ist alt, trägt noch die gelbe Farbe der österreichischen Postund stößt dicken, schwarzen Rauch aus. Er steht eines Morgens in einemDorf auf dem Balkan, nimmt seine Passagiere auf und fährt auf dieSchnellstraße, die in einigem Abstand am Dorf vorbeiführt. Erstallmählich werden die Umstände dieser Reise offenbart: Über das Landist ein Krieg hinweggegangen. Zwar sind neue Brücken an die Stelle deralten, zerstörten errichtet worden. Aber das Dorf ist eine Enklave ineiner feindlichen Umgebung, und die Fahrt führt in die Hauptstadt: nachBelgrad. Der Leser ergänzt die Namen: Hier ist vom Kosovo die Rede, unddas Dorf ist eine serbische Enklave. Aber die Namen tun eigentlichnichts zur Sache. Denn dies ist keine Reportage, sondern eine Erzählungin Bildern, die so präzis und lebendig sind, dass der Leser sofortseinen Platz findet neben dem Erzähler, auf denselben verschlissenenSitzen, und neben ihm betrachtet er die kauenden, Sudoku lösendenMitreisenden.
„Sie bissen weiterhin stier in ihre Äpfel, daß es nur so knirschte undkrachte; steckten sich die Kopfhörer in die Ohren und drehten an ihrenMusikgeräten den Ton so hoch, daß, jenseits von Melodie, Gesang undInstrument, auch jenseits eines irgendwie mitzuerlebenden Rhythmus,nichts als ein Scheppern, alles durchdringend, um sich griff, vor demnirgends in dem Passagierraum, selbst bei dem Gedröhn des Motors, einEntkommen war; schlugen, das erste Rätsel gelöst, mit großer Gebärdedie Seite um zum nächsten Rätsel; kämmten sich ausführlich; bohrten inder Nase; steckten sich, einer nach dem anderen, Zigaretten in den Mund(freilich ohne zu rauchen); drückten in einem fort an ihrenMobiltelefonen herum (nur so zum Zeitvertreib).” Da reisen sie dannhin, diese schwankenden Gestalten, in ihren harten, unförmigen,schwarzen Lederjacken. Und anstatt sich, wie der Erzähler von ihnenerwartet hätte, im Schmerz über den Krieg und dessen Folgen untröstlichzu gebärden, hocken sie stumpf und stumm im Bus, ein jeder für sich.
Einen Peter Handke wie diesen hat es noch nicht gegeben. Der Autor der„Morawischen Nacht” ist jung, klar und rücksichtslos auch gegenübersich selbst. Er geht auf die Wirklichkeit zu, mit schnellen,entschlossenen Schritten. Zwar hat er seine Sprache behalten, seinenklassischen, kleinteiligen, mäandrierenden, immer wieder durch Fragenunterbrochenen Prosastil, und gewiss setzen sich in dieser langenErzählung ältere Bücher Peter Handkes fort: Orte und Figuren aus der„Stunde der wahren Empfindung” (1975), der „Wiederholung” (1986) undauch aus dem „Jahr in der Niemandsbucht” (1994), die Selbstbesichtigungeines Schriftstellers aus dem „Nachmittag eines Schriftstellers” (1987).
Aber die Anlage, die Erzählform dieses Buches ist anders, als PeterHandke je gearbeitet hat: Das liegt zum einen daran, dass die Reise,von der in der „Morawischen Nacht” erzählt wird, einemvorgeschriebenen, über feste Stationen verlaufenden Weg folgt – einemWeg, der zudem aus Leben und Werk Peter Handkes vertraut ist. Und esliegt daran, dass es Peter Handke mit der Selbstbefragung ernst meint:nicht nur, indem er die vertrauten Einwände gegen sich und seine Bücherprüft, mit großer Offenheit und deutlichen Vorbehalten auch sich selbstgegenüber, sondern auch, weil er vorangehen, etwas Altes bewältigen undetwas Neues beginnen will: „Ein dunkler klarer Morgen war das, wiegeschaffen zum Aufbrechen.” Die „Morawische Nacht”, nur scheinbar eineaus den Fugen geratene Erzählung, ist ein kompaktes, intensives undimmer wieder auch sehr spannendes Werk.
Das Buch hat eine Rahmenhandlung: Auf einem auf der Morawa, einemNebenfluss der Donau, verankerten Hausboot lebt ein Mann, der einmalein Schriftsteller war. Bei ihm versammelt sich eines Abends eineGruppe von Freunden, mit deren Hilfe die Reisen des „Ehemaligen”, des„Ex-Autors” erzählt werden – von den Freunden, von ihm selbst, imZwiegespräch. Die erste Reise führt mit dem alten Bus aus der Enklavezur nächsten Grenzstadt. Die zweite führt auf eine dalmatinische Inselmit dem phantastischen Namen „Cordura”, hinter der sich unschwer dieInsel Krk erkennen lässt, auf der Peter Handke im Sommer 1964 die„Hornissen”, seinen ersten Roman, schrieb. Ziel der dritten Reise istein Kongress über „Lärm und Geräusche”, der irgendwo auf einerversteppten spanischen Hochebene stattfindet. So geht die Reise fort:nach Wien, wo der Erzähler in die Weltversammlung der Mundorgel-Spielergerät, in einen Kurort im Südharz, wo der Vater begraben liegt, nachKärnten, in die „Stammgegend”. Und gewiss muten immer wieder Figuren,Orte, Ereignisse phantastisch an, wie erträumt oder mit dem Willen zurVerrückung erfunden – aber der Duktus ist ein anderer: Es sind Orte der(auch ironischen) Prüfung, durch die es auf dieser Reise geht, undPeter Handke will diese Prüfungen bestehen und seinen Leser überzeugenwie nie zuvor. Deswegen verleiht er seiner Erzählung, in der Mitte desBuches und durchaus zustimmend, eine Genrebezeichnung, die sich beidiesem Autor ganz unerhört ausnimmt: „also etwas wie eine imaginierteReportage”.
Peter Handkes Reportagen finden gleichsam im Rücken derjournalistischen Reportage statt. Er sieht sie von hinten, sie selbstund die vielen, nicht zuletzt kleinen Dinge, die sie selbst nichtwahrnimmt, weil sie mit Großem und Aktuellem beschäftigt zu sein meint.Deswegen eignet seinen Reportagen etwas methodisch Poetisches zu,deswegen tragen sie einen Zug von Programm und Handlungsanweisung. Erwill, dass seine Abkehr sichtbar bleibt. Er fährt in den scheinbarwirklichen Lauf der Dinge, erzählt Abgelegenes, Unglaubliches,Märchenhaftes. Aber er tut es mit dem Gestus: Schau, das habe ich mirausgedacht, und dabei wird er zuweilen sogar flapsig. Denn ebensowenig, wie er erlauben möchte, dass sich der Leser in der falschenGewissheit des Realistischen wiegt, will er zulassen, dass dieser ihmin die poetische Überhöhung entkommt – und wenn ihm Behinderte durchdas Bild taumeln, dann arrangiert er sie zwar so, als hätte er sieeinem Gemälde von Breughel entliehen, lässt sie aber an einer großenPlakatwand vorbeiziehen. Und er besteht auf der doppelten oder gardreifachen Erzählperspektive: Bloß keine falsche Unmittelbarkeit. Underst recht keine „Schicksale, Charaktere, Aktionen: nichts für ihn.”
Auf der Insel „Cordura” lernt der Erzähler, dass die Liebe zur Dichtungund die Liebe zur Frau nicht zusammengehören. Der „schreibendeGeliebte” sei etwas Unmögliches, versichert er. Zwar sind die Freunde,die zu Beginn der „Morawischen Nacht” auf das Hausboot desSchriftstellers klettern, überrascht, ihn in Gesellschaft einer Frauanzutreffen – einer allegorischen Schönheit, hinter der sich derBalkan, hinter der sich aber womöglich auch das menschliche Gegenüberschlechthin verbergen mag. Aber das geht nur, weil er ein „Ehemaliger”,ein „Ex” ist – und wenn am Ende die Sonne aufgeht, der Tag und also dieArbeit beginnt, ist diese Frau wieder verschwunden. Und dieLiebesgeschichte, immer wieder angekündigt, wird allenfalls inFragmenten, in Anläufen und Splittern erzählt.
Die „Morawische Nacht” ist eine Erzählung über das Erzählen. Und dasheißt auch: Es ist eine Erzählung davon, wie einem Erzähler nicht nurdas Erzählen, sondern auch die Zuhörer und Leser abhanden kamen. Unddarüber, warum das so war. Und darüber, was man anders und bessermachen kann. „Wenn bei Homer sieben, oder waren’s neun Städte sichdarum gestritten haben, die Stätte seiner Geburt zu sein, so werden indeinem Fall neun mal sieben abstreiten, daß du aus ihnen stammst”, wirdder Erzähler einmal verflucht – und genau das wird er verhindern, indemer seinem Gegenüber wieder ins Gesicht schaut.
So geht es am Ende um eines: um die „Flucht- und Trutzburg”. DasHausboot auf der Morawa ist eine: „Keinen an sich heranlassen, für sichselber sorgen.” Die Enklave ist eine. Die Heimat ist eine. DasAlleinsein ist eine. Und das Schreiben ist auch eine. „Kummerecken”sind sie allemal. Vielleicht aber braucht man gar keine Flucht- undTrutzburgen. „Genug im Abseits. Schluß mit dem Alleingehen”, ruft demErzähler im Karst eine heitere Gemse zu: „Auf mit dir, duTiefland-Trottel.” THOMAS STEINFELD
PETER HANDKE: Die morawische Nacht. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 562 Seiten, 28 Euro.
Dieser Autor ist jung, klar und rücksichtslos auch gegenüber sich selbst.
Wenn am Ende die Sonne aufgeht, und also die Arbeit beginnt, ist die Frau wieder verschwunden.
Über diesen Fluss führt längst wieder eine Brücke, und auch ein Hausboot soll es geben: Die Morawa nach dem Krieg. Foto: AP
Gut eingespielt: Peter Handkes Maultrommel Foto: Eberhard Wolf
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Der Prinz von Nirgendwo

Sein Balkan ist nicht mehr von dieser Welt: Mit der langen Erzählung"Die morawische Nacht" wendet sich Peter Handke der eigenenVergangenheit zu und läutet gelassen sein Alterswerk ein.

Von Hubert Spiegel

Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, waren aus einer anderen Zeitnoch ein paar übrig, die der Idee oder dem Hirngespinst von einemzusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europanachhingen." Aber es sind nur noch wenige, vereinzelte, und sie wissen,dass am Gang der Geschichte nicht mehr zu rütteln ist. Immer wenigerwerden sie, dezimiert durch plötzliche, nicht selten gewaltsameTodesfälle und Selbstmorde. Wer übrig bleibt, wird wunderlich,paranoid, verrückt. Zum Schluß sind es nur noch drei, die an einerletzten "Konferenz" teilnehmen. Sie findet statt in der slowenischenDelana Dolina, einer kreisrunden tiefen Grube im Karst oberhalb vonTriest, der "Mutter aller Karste."

Hie kommen ein ausgemergelter ehemaliger amerikanischer Außenminister,eine zierliche japanische Motorradrennfahrerin und ein "abgedankterAutor" zusammen, um des "alten Karstweltreiches" zu gedenken und dieErde nach "Balkansitte" mit ein paar Tropfen aus ihren Weingläsern zutränken, den Entschwundenen zum Gedächtnis. Über ihren Köpfen hängteine alte Schiffsglocke, kyrillisch wie lateinisch beschriftet, mit amGlockenrand festgerostetem Klöppel. Und jetzt blähen die drei wie aufein geheimes Zeichen ihre Backen und pusten den Klöppel an, um dieGlocke zum Klingen zu bringen. Aber es gelingt ihnen nicht, nichteinmal dem "Ehedem-Autor, dem man doch einmal den epischen Atemnachgesagt hatte . . ." Erst als sie sich abwenden, hören sie in ihremRücken "doch noch etwas wie einen Klang, eher ein klägliches Bimmeln,oder ein bloßes Rascheln, wohl nur in der Einbildung? Nur?"

Nein, Peter Handkes Balkan ist nicht mehr von dieser Welt. Mit dieserSzene, die Züge des Märchenhaften, Versponnenen, aber auchIronisch-Satirischen trägt, verabschiedet Handke seinen Traum vomvereinten Jugoslawien. Der Balkan, das war Peter HandkesPrivatmythologie, scheinbar unauflöslich mit der Vergangenheit desSchriftstellers verknüpft, mit seiner Kindheit, seinen Vorfahren,seinen ersten Reisen und ersten Büchern, und deshalb eineAngelegenheit, die mit Zähnen, Klauen und allen anderen ihm zu Gebotestehenden Mitteln verteidigt werden musste. Mit seinem jüngsten, indiesen Tagen erscheinenden Buch "Die morawische Nacht" lässt Handkeseinen Traum fahren, um seine Freiheit wiederzugewinnen. Es einBefreiungsbuch, das eine zur Obsession gewordene Leidenschaftverabschieden möchte, gewiss nicht leichtfertig, aber doch erstaunlichleichtherzig, wie es scheint. Das kleine, wie zaghaft nachgeschobenenefragende "Nur" am Ende der beschriebenen Szene ist in Wirklichkeit einauftrumpfendes "Nur", ein Fanfaren-Nur: Es verkündet Abschied undRückkehr zugleich, einen Abschied von den Landkarten und Grenzen derWirklichkeit und die Rückkehr ins Reich der Poesie und in die eigeneVergangenheit, die Handke mit diesem Buch wiedergewinnt, weil er darinaufgehört hat, sein ganzes Tun und Wesen mit einer Kindheits- undTraumlandschaft unauflöslich zu verknüpfen.

Das setzt nicht Verzicht voraus, sondern Verwandlung. Handkes Balkanist nicht mehr von dieser Welt, und deshalb kann er ihn jetzt überallfinden, im Harz zum Beispiel. Hierhin zieht es den Erzähler, weil hierder Vater begraben liegt, den er nie gekannt hat. Das Grab isteingeebnet, statt des erwarteten Gedächtnisortes, Ziel der nie sobezeichneten Pilgerschaft, liegt ein "vollkommen flaches, Grasdurchwachsenes Schotterviereck" vor ihm, leer und flach wie ein BlattPapier. Und wie ihm zuvor auf einer Adria-Insel ein sprechender Hunddie Leviten gelesen hat, weil er eine frühere Geliebte mit einem Kindsitzengelassen hatte, ist es nun ein Zitronenfalter, der sich in einuraltes Weib verwandelt, eine "Harzeinheimische", die ihren Stock gegenden Erzähler schwingt.

Soeben noch hatte er in stolzem Selbstmitleid geschwelgt, "Ah, meineverdammte Vaterlosigkeit! Ohne Vater: außerhalb des Rechts", nunfliegen ihm die Vorwürfe nur so um die Ohren: "Ja, verdammterVaterloser, Du! Hältst Dich für unverwundbar, weil du nie einen Vatergehabt hast . . . Deinen Vater los: der Freieste der Freien? Nichtdoch, mein Lieber: keines-Vaters-Kind wird nie ein Erwachsener . . .".So geht es weiter, ein Verbannter sei der Erzähler, ein Ortloser, einPrinz des freien Raumes habe er sein wollen und sei doch nur ein "Prinzvon Nirgendwo, Prinz-ohne-Raum" geworden.

Prinz ohne Raum, das ist ein Titel von stolzester Bescheidenheit, wieer Peter Handke gefallen dürfte. Überhaupt liegt immer wieder etwasdurchaus Genüssliches in den Vorwürfen und Selbstbezichtigungen, mitdenen Handke seinen Erzähler traktiert. Idiot, Dorftrottel, Hausstock,Verräter, zweifach Unfähiger - kein Zwiegespräch kommt ohneBeleidigungen aus. Und dieser Erzähler, so eigensinnig, verstockt,bärbeißig und hochfahrend er sich auch gibt, braucht das Zwiegesprächmit Pflanzen, Menschen, Tieren und immer wieder, in den rarenSekundenbruchteilen des gelingenden Lebens, mit den Dingen. Dass ihneine Gemse als "Tiefland-Trottel bezeichnet, nimmt er ebenso gelassenhin wie die Suada des falschen Freundes Melchior. In dieser Episodeerweist sich der Journalist und Schriftsteller als skrupelloserKonkurrent, ja mehr noch, als Plagiator und Todfeind. Die Dichtung seitot, einzig die Zeitungssprache sei lebendig und der schreibendeArrangeur der einzige Nachfolger des abgedankten Poeten: "Und du, meinTeuerster, auf den Müllhaufen der Geschichte mit dir . . . Ich bin dasMonstrum, das jubiliert." Aber der tödliche Zweikampf bleibt aus: DerErzähler wünscht den Rivalen einfach zum Teufel, und sein Wunsch wirderfüllt.

Dass die Sache der Poesie so einfach nicht zu bewahren ist, weiß Handkenur allzugut. Im Zwiegespräch mit einem echten Freund, dem WienerVolksund Zaubermärchendramatiker Ferdinand Raimund, stellt dermittlerweile durch Österreich reisende Erzähler die Frage, ob es nochMärchen zu erzählen gebe. Die Antwort lautet: "Nein. Oder bestenfallsin Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern."

Aus solchen Märchenbruchstücken besteht dieses Buch: die Reminiszenz andas erste Buch und die erste Geliebte auf einer Adria-Insel, dieHarzreise zum toten Vater, der Weltkongress der Maultrommelspielerunweit von Wien, die Begegnungen mit den alten Freundden GregorKeuschnig und Filip Kobal aus den Büchern "Die Stunde der wahrenEmpfindung" (1975) und "Die Wiederholung" (1986), schließlich dasWiedersehen mit dem Bruder beim lange hinausgezögerten Besuch imHeimatdorf - all das sind Binnenepisoden, unterbrochen von oftverrätselten Sekundenmärchen, Reiseskizzen und der Schilderungzahlloser Zufallsbegegnungen. Erstaunlich unverblümt verhandelt Handkehier Intimes und Autobiographisches, die Familiengeschichte ebenso wiedie verstörende Erfahrung der Ablehnung, die er seinem missglücktenEngagement für Serbien zuzuschreiben hat, oder das schwierigeVerhältnis des Dichters zu Frauen.

Wie schon in seinem letzten Roman "Kali" betreibt Handke auch im neuenBuch eine krude Remythisierung des Geschlechterverhältnisses unterdeutlich misogynen Vorzeichen. Die Frau, das bedeutet, in den Wortendes "alten Kumpans" Raimund nichts Gutes: "Achtung, Frau, Achtung,Verrat, Achtung, Todeszone." Aber auch die Gegenstimme ertönt aus demReich der Toten: Es ist die Mutter, die den Sohn zurechtweist, ihm alleSchuldgefühle nehmen will und das "Wunschlose Unglück", das ihr derSohn im berühmten frühen Buch attestierte, kurzerhand zurückweist:"Genug der Schuld und der Schuldsuche. Genug des Selbstmarterns und desMarterns der anderen . . ."

Peter Handke vergibt sich selbst - und nebenbei, noch einSekundenmärchen, auch Deutschland und Österreich. Er spricht mit seinenToten, erklärt sich zum mal "durchgedrehten", mal "abgedankten Autor",um zurückzukehren als Autor eines Buches, das unübersehbar den Beginndes Alterswerks markiert. Handke hat Vergnügen daran gefunden, sich vonaußen zu betrachten und mitunter zu lächeln über das, was er da sieht."Die morawische Nacht" ist der Versuch eines Dichters, mit sich und derWelt ins Reine zu kommen. Für jemanden, der den Streit oft mehr zulieben schien als den Frieden, ist das erstaunlich gut gelungen.

- Peter Handke: "Die morawische Nacht". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 559 S., geb., 28,- [Euro].

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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.02.2008
In seiner Schönheit schlicht bezwingend scheint Michael Rutschky dasneue Werk Peter Handkes, auch wenn dieser Autor für ihn eineambivalente Figur bleibt, zumal wenn er sich politisch äußert.Skeptisch betrachtet er die jubelnden Kritiker, die kundtun, Handkehabe seine Jugoslawien-Obsession hinter sich gelassen. Ein aktuellerZeitungsbericht, in dem Handke erklärt, er würde den PolitikerNikolevic von der radikalnationalistischen Partei zum Präsidentenwählen, wäre er Serbe, spricht für Rutschky hier eine andere Sprache.Nichtsdestoweniger räumt er im Blick auf das neue Buch ein, es seischwer, "es nicht wunderschön zu finden". Er bewundert Handkes Prosa,die in seinen Augen einer "Ästhetik des Erscheinens" folgt, freut sichüber Wortneuschöpfungen und amüsiert sich über Kalauer, die Veräppelungvon Namen wie Gringo Bush, Josip Fisherman, A. Hüttler. Handkesliterarisches Bestreben sieht Rutschky gegen das gerichtet, was dieseFiguren repräsentieren: eine von außen aufgezwungene Normierung einesauthentischen Lebenszusammenhangs, einer Landschaft, eines Orts.Insofern erkennt er bei Handke eine Annäherung an den Nationalismus des19. Jahrhunderts, wobei er freilich präzisiert, es handle sich dabei umein "literarisches Verfahren".
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 15.01.2008
Als "selbstironische Bilanz (s)eines Dichterlebens" würdigt AndreasBreitenstein das neue Werk Peter Handkes, das ihn rundum überzeugt. DieErzählung um einen ehemaligen Autor, der auf der Suche nach seinemverlorenen Selbst durch Europa reist, das Grab seines Vaters und seinerMutter besucht, seinen Bruder, Politiker, Schulkameraden,Dichterkollegen trifft und mit Romanfiguren spricht, um am Ende wiederzu seinem Hausboot "Morawische Nacht" in Porodin zurückzukehren und mitFreunden zu feiern, nimmt nach Ansicht Breitensteins den entspanntenTon des Vorgängerwerks "Kali" auf, um ihn weiterzuführen Richtung"Revision und Versöhnung". Er würdigt die "gedankliche Reife" und"epische Weite" des Werks, das sich durch wunderbare Reise-Episoden,Meditationen und Alltagsbeobachtungen, autobiografische Erinnerungenund poetologische Reflexionen auszeichnet. Und nicht zuletzt findet erin dem Buch auch eine selbstironische Selbstprüfung Handkes.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.01.2008
Überrascht und begeistert zeigt sich Thomas Steinfeld von dieser neuenErzählung von Peter Handke. So nämlich, wie er der Leserschaft hierkommt, habe man den Autor noch nicht erlebt. Natürlich sei ersprachlich und stilistisch wiederzuerkennen. In manchen Zügen schließtder Band auch sehr direkt an frühere Bücher Handkes an. Ganzerstaunlich aber findet Steinfeld die Offenheit, mit der sich der Autorhier nicht nur der Welt zugewandt zeigt, sondern auch, ansatzweisejedenfalls, mit sich selbst ins Gericht geht. Gerahmt ist das Buchdurch eine Party, zu der sein Protagonist, ein Ex-Autor, Freunde aufsein Hausboot auf dem Donau-Nebenfluss Morawa lädt. Von dort aus aberwird gereist, auf die Insel "Cordura" (in der der Rezensent Krkwiedererkennt), aber auch nach Wien oder Kärnten. DieReiseschilderungen werden zu literarischen Reportagen und zugleich gehtes in der Erzählung um einen Erzähler, dem "die Zuhörer und Leserabhanden kamen", aber auch, so Steinfeld, immer um das Erzählen selbst.Der Rezensent ist, keine Frage, von diesem erstaunlich "jungen, klarenund rücksichtslosen" Peter Handke fasziniert.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 10.01.2008
Ausführlich bespricht Iris Radisch Peter Handkes neuen Roman, den sieals Fortschreibung seines "einzigen großen Lebensbuches" empfand, zudem sie spätestens alle Bücher seit "Die Lehre des St. Victoire"gezählt wissen will. Dort nämlich habe Handke die entzauberte Welt zumersten Mal zum Gegenstand gemacht und seitdem ein nicht unerheblichesMaß an literarischer Energie aufgebracht, sie schreibend zurück zuverzaubern. Im vorliegenden Fall führt das bei der Rezensentin jedochschnell zur Überreizung. Auch wirkt Handkes Rückverzauberung imjüngsten Buch gelegentlich wie eine Computeranimation auf sie.Natürlich gibt es auch manches auf der Habenseite zu verbuchen: zumBeispiel eine gewisse Relativierung der nationalistischenSerbien-Ausflüge aus dem Jahr 1996. Aber auch gewohnte QualitätenHandke'scher Prosa, meisterhafte Miniaturen beispielsweise, sorgen beider Rezensentin mitunter für Lesegenuss. Insgesamt aber scheintangesichts weitgehend handlungsfreier Litaneien, "höhererUmstandskrämerei" und inszeniertem "Stottern, Verzögern, Fragen,Nachstoßen" ein gewisser Verdruss zu überwiegen. Vor lauter Budenzauberkönne man aus Sicht der Rezensentin nämlich leicht das Herzstück diesesBuchs übersehen: die Rede der toten Mutter im Traum, die ihrenverlorenen Sohn frei von der Schuld an ihrem Selbstmord spricht.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 07.01.2008
Martin Krumbholz nimmt etwas überrascht und vielleicht auch einbisschen erleichtert zur Kenntnis, dass das neue Buch von Peter Handke,das schon im Titel den Balkan als Reflexionszentrum angibt, keinerleiZündstoff für politische Debatten enthält. Ein Schriftsteller, den manlaut Rezensent getrost als Alter Ego Handkes lesen kann, wenn das Buchansonsten auch keinen autobiografischen Hintergrund hat, hat Freundeauf sein Hausboot auf der Morawa eingeladen und erzählt ihnen eineNacht lang von Erinnerungen einer Reise durch Europa, fasst derRezensent zusammen. Politisch wie poetologisch gibt sich dieses Buch"defensiv" und beschwört nicht nur den "Balkan" als utopischen Ortjenseits politischer Auseinandersetzungen, sondern verteidigt auch dieLiteratur als Anschauungskunst gegenüber zweckgebundenem Schreiben. FürKrumbholz ist das jüngste Buch Handkes ein grandioses Werk, das, wennes über ein Treffen von Maultrommlern in Wien oder über eine"multikulturelle Krypta" erzählt, mit wunderbar unmittelbaren undanschaulichen Beobachtungen aufwartet, die in dieser Form bei keinemanderen Autor heute zu finden sind, wie der Rezensent berückt preist.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung,05.01.2008
Als klar markierten Beginn von des Dichters Alterswerk begreiftRezensent Hubert Spiegel diese nicht eben schmal ausgefallene Erzählungvon Peter Handke. Etwas wie eine lineare Handlung gibt es - vielleichtsollte man sagen: natürlich - nicht, dafür aber die Wiederbegegnung mitvielen von Handkes Lebensthemen. Der Balkan natürlich, bzw. einseltsames Idealbild davon, dem der Dichter mit der bekanntenBeharrlichkeit anhängt. Aber auch frühere Bücher: So taucht etwa GregorKeuschnig aus "Die Stunde der wahren Empfindung" wieder auf, schreibtSpiegel. Es dominiere ein Erzähler, der freilich immer wieder auchbeschimpft werde. Überhaupt scheint es vor allem die entschlosseneUneindeutigkeit des Tons, die den Rezensenten besonders fasziniert.Handke schwanke hier zwischen Satire und Autobiografischem, zwischenversponnenem Märchen und nicht zu unterschätzender Misogynie. DerDichter "vergibt sich selbst", konstatiert Spiegel, der ihm da aberoffensichtlich in nichts nachstehen will.



"Die morawische Nacht" heißt die neue Erzählung von Peter Handke. DieGeschichte handelt von einem Ex-Autor auf einem Hausboot, der siebenWeggefährten zu Gesprächen eingeladen hat. Das Buch ist eine Artautobiografische Rückschau Handkes, der sich darin zur Abwechslung auchmal selbst beschimpft.
 
Foto: pa/dpa
Lange weilte sein Herz in Serbien, doch in seiner neuen Erzählung fühltsich Handke als "Prinz von Nirgendwo". "Die morawische Nacht" ist eineSammlung sanftmütig-poetischer Bekentnisse des Autors.
Im Dezember wurde er 65, für einen Dichter gewiss kein Rentenalter. ImGegenteil: Da beginnt in der Regel das Spätwerk. Sie gilt auch und imbesonderen Maße für den ungemein produktiven Peter Handke. Trotzdem hater seine irdischen Dinge bereits bestellt, seinen Nachlass zu Lebzeitenin wichtigen Punkten geordnet übergeben. Derlei heißt „Vorlass“ undbringt eine ordentliche Summe Geldes ins Haus. Ein vernünftiger, inletzter Zeit immer häufiger praktizierter Brauch unter Schriftstellernvon Rang.
Die Manuskripte literarischer Texte gingen ans ÖsterreichischeLiteraturarchiv in Wien, Notizbücher nach Marbach, wo Neugierigeoffenbar schon jetzt Einblick nehmen dürfen, was Handke alles nicht inseinen Bänden drucken ließ. Mit einem Stück des Meisters gesagt:„Zurüstungen für die Unsterblichkeit“.
HANDKE KEHRT ZUM SERBISCHEN FLUSS ZURÜCK
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Handke-Verehrer konnten vor längerem aufatmen. Er hatte den im Detailkaum nachvollziehbaren tagesaktuellen publizistischen Kampf um„Gerechtigkeit für Serbien“ aufgegeben und ist von polemischer zupoetischer Prosa, seinem eigentlichen Metier, zurückgekehrt. „Don Juan(erzählt von ihm selbst)“ (2004) und „Kali. Eine Vorwintergeschichte“(2007) fanden auch bei der Kritik positives Echo. Die jüngsteVeröffentlichung stimmt von vornherein freilich etwas bedenklich,
 weist doch der Titel „Die morawischeNacht“ auf eine präzisegeografische Verortung hin. Die Morawa südöstlich von Belgrad ist einerjener Flüsse, zu denen Handke in den 90er Jahren des vergangenenJahrhunderts aufgebrochen war, um sodann den staunenden Lesern dasandere, das unschuldige Serbien vor Augen zu führen. Aber keine Sorge:Sie ist ebenso unberechtigt wie die – bei einem Umfang von 560 Seiten –sehr untertriebene Genrebezeichnung „Erzählung“. Man hat den Begriffwohl im buchstäblichen, ursprünglichen Sinn aufzufassen – alsmündlichen Bericht.
Eine Inhaltsangabe zum besseren Verständnis scheint unerlässlich undsinnlos zugleich, weil sie das Wesentliche verfehlen muss. An den Ufernder Morawa bei Porodin ist ein Hotelschiff namens „Morawische Nacht“vertäut. Zahlende Gäste sind dem Hausbootherrn nicht erwünscht,geladene schon.
DER ERHABENE DICHTER NEIGT JETZT ZUR SELBSTKARIKATUR
Sieben Freunde, Bekannte und Weggefährten hat er einbestellt: Vomspäten Abend bis zum Tagesanbruch bringt er ihnen die Geschichte seinerRundreise durch Europa zu Gehör. Fürwahr, ein seltsamer Zeitgenosse.Wie sich Kurt Tucholsky im Exil, als er ins Schweigen versank, einen„aufgehörten Schriftsteller“ nannte, nennt sich dessen Kollege vonHandkes Gnaden einen „Ex-Autor“, einen „Ehemaligen“ oder gar einen„abgedankten Autor“.
Der Einwand, dass eigentlich nur Könige oder sonstige Herrscherabzudanken pflegen, liegt auf der Hand. Indes passt solch ehererhabenes Selbstbild zu Handkes Schreibepraxis, zumal da sich einfundamental neues Element hinzugesellt hat. Um abermals bei TucholskyAnleihen zu nehmen: Der hatte einst Irmgard Keun mit dem unterFeministinnen später recht unbeliebten Satz begrüßt: „Hurra! Eineschreibende Frau mit Humor, sieh mal an!“
Peter Handkes zuweilen zu feierlichstem Ernst neigende Prosa schien bisdato völlig unironisch. Das ist nun, Grund genug zur Freude, dochanders geworden. Ohne ihn kränken zu wollen, behaupten wir: Der„abgedankte Autor“ ist nicht nur, aber auch eine SelbstkarikaturHandkes mit einer erstaunlichen Menge autobiographischer Einsprengsel.
DAS IST NEU: HANDKE MACHT SICH VORWÜRFE
Der Vorteil literarischer Freiheit: In der Entblößung steckt stets einegehörige Portion Camouflage. Das changierende Spiel zwischen Dichtungund Wahrheit, Verbergen und Enthüllen, ist eine der reizvollstenLektüre-Erfahrungen. Dass Figuren aus Handkes Romanen wie GregorKeuschnig und Filip Kobal „Die morawische Nacht“ bevölkern, verstehtsich beinah schon von selbst. Aber dass fast alles, was gegen PeterHandke vorzubringen wäre, auf durchaus radikale Weise von ihmpersönlich vorgebracht wird, verblüfft denn doch. Es zeugt von einerSouveränität, die meist tatsächlich erst im vorgerückten Alter möglichist.
Verfehlt wäre allerdings der Eindruck, Peter Handke habe sich vonseinem jugoslawischen Traum und Trauma sang- und klanglosverabschiedet. „Diemorawische Nacht“ ist ein teils witzig-satirischer,teils elegisch-resignierter Abgesang darauf. Vermutlich wird derJugoslawien-Komplex nach solch gründlicher Aufarbeitung sein künftigesSchaffen nicht mehr beschweren. Hier spielt er, zumindest am Anfang undEnde, noch eine gewichtige Rolle.
Die Worte Serbien oder Serben kommen allerdings nicht vor, stattdessenspricht Handke von „Walachen“ und „walachisch“. Er operiert mitAndeutungen – etwa dem Verschwinden der kyrillischen Schriftzüge; erschildert eine Busfahrt aus der serbischen Enklave Porodin mitten durcheine Steine werfende Menge am Straßenrand. Und plötzlich dann einewinzige Szene: Ein Kind winkt den Insassen reflexartig zu – ein Zeichender Hoffnung und ein Dementi der in biblischen Tonfall mündenden Tiradedes Buschauffeurs: „Euer Hass, der höret nimmer auf.“
JOSCHKA FISCHER WIRD ZU JOSIP FISHERMAN
Die folgende Suada des Fahrers könnte genauso gut von Handke selbstsein: „Mögen sie meinetwegen jeden ihrer Heuschober zumStaatsheuschober erklären, jeden früheren Feldgrenzstein zumStaatsgrenzstein, jeden kleinen Steineschmeißer zum Staatssymbol. Ichbin staatenlos, und darauf bin ich stolz. Immer war ich staatenlos. Undimmer möchte ich staatenlos bleiben.“
Den Fluch des Nationalismus hatte Franz Grillparzer schon anno 1848 ineinen Aphorismus gefasst: „Der Weg der neueren Bildung geht vonHumanität durch Nationalität zur Bestialität.“ Beklagt, verspottetwerden die Verwestlichung, die Europäisierung des Balkans und derMitteleuropa-Kult – kein Wunder bei einem unverbesserlichen Anhängerder Vormoderne wie Peter Handke. Ob jedoch halblustigeNamensverballhornungen à la Josip Fisherman (für Joschka Fischer) oderMagdalena Ganzhell (für Madeleine Albright) nötig sind, sei bezweifelt.
Die „Zickzackreise“ des Ex-Autors führt an Orte und in Gegenden, diefür Handke bedeutsam waren und sind: auf die adriatische Insel Krk(Cordura genannt), wo er sein erstes Buch schrieb; in die spanischeMeseta zu einem internationalen Symposium der Lärmgeschädigten; an dieDonau zum „Friedhof der Namenlosen“ bei Wien und einem Welttreffen derMaultrommler in einer benachbarten Gaststätte; in den deutschen Harz,woher sein natürlicher Vater stammte; ins niederösterreichischeGutenstein, zum Landsitz des dramatischen Märchendichters FerdinandRaimund, und schließlich in sein Kärntner Geburtshaus.
GEWALTTÄTIGKEITEN GEGEN GELIEBTE FRAUEN
Vorwürfe und Bezichtigungen, auch von sprachbegabten Tieren, säumenseinen Weg. Ein Zitronenfalter in Spanien „spritzte da seinen Kot los,indem er den Hinterleib aufbog und aus diesem es, nach vorn über denKopf, in die Lüfte spritzen ließ – noch nie hatte der Wanderer einenSchmetterling scheißen sehen und kam sich für den Augenblick wie einEntdecker vor“.
Im Harz bei der Suche nach dem Vatergrab taucht der virtuose Falterwieder auf und beschimpft ihn. Offenbar lieben Weißlinge verkappteVerse: „Den Prinz gabst, Vaterloser, du, mit freiem Raum um dich, undwarst, wenn Prinz, doch nur Prinz von Nirgendwo, Prinz-ohne-Raum.“
THEMEN
•    Peter Handke
 
•    "Die morawischeNacht"
•    Erzählung
 
•    Serbien
Heikles wird nicht ausgespart: die asoziale „Schreibtyrannei“ desHeranwachsenden ebenso wenig die Unfähigkeit eines narzisstischenKünstlers zu dauerhafter Partnerschaft bis hin zu Ausbrüchen vonGewalttätigkeit gegen geliebte Frauen. Die Mutter, die Selbstmordbegangen und der Handke in „Wunschloses Unglück“ ein unvergänglichesDenkmal gesetzt hatte, erscheint seinem Doppelgänger im Traum: „Du mitdeinem ewigen Schuldbewusstsein und deinem Schuldsuchen auch beianderen. Du bist unschuldig, du dummer Kerl“. Lauter poetischeBekenntnisse eines notorisch Sanftwütigen.
GESPRÄCH MIR EINEM TOTEN DRAMATIKER
Naturgemäß erklingen auf diesen Blättern die Leitmotive von PeterHandkes Œuvre als romantischer Gegenentwurf zur realen Welt: dieAugenblicke der wahren Empfindung, die „zitternde Sekunde“, dasInnewerden im Innehalten und vor allem: die „Entrückung“.
Am schönsten aber ist das Totengespräch mit Ferdinand Raimund. DessenMaximen sollte nicht allein der „abgedankte Autor“ beherzigen: „Es gibtkeine paradiesischen Tage. Und am Ende weiß keiner nichts. Ratlos mussgeschieden sein.“
Peter Handke: Die morawische Nacht. Suhrkamp, Frankfurt/M. 550 Seiten, 28 Eur




Späteren Generationen könnte die Debatte über Peter Handke einLehrstück über den deutschsprachigen Literaturbetrieb seiner Zeitwerden: ein Schriftsteller, der Sätze von einer selbstverständlichen,unangestrengten Schönheit schreiben kann. Ein Schriftsteller aber auch,der aus seiner beachtlichen poetischen Sensibilität von jeher ein demNormalmenschen - und den Medien sowieso - überlegenen Zugang zurWirklichkeit ableitet; schließlich ein überlegenes Urteilsvermögen überdiese Wirklichkeit.
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Auf der anderen Seite eine literarische Öffentlichkeit, die sich andiesem Aspekt nie gestört hat, weil sie Handkes kunstreligiöseAuffassung von Literatur mehr oder weniger teilt, zumindest duldet.Oder die doch zumindest den schreibenden - und den lesenden - Menschengleichfalls immer schon für den auch moralisch überlegenden Menschenhält. Zum Skandal kam es bekanntlich, als der Schriftsteller in einertagespolitischen Frage, in einem Kriegsgeschehen, Position ergriff, undzwar für Serbien, die in der westlichen Öffentlichkeit als schuldigfeststand. Er sei "nicht für die, sondern mit den Serben", hat erspäter gesagt. Das Mit-sein allerdings schloss neben einem Buch von1996, das "Gerechtigkeit für Serbien" forderte, auch einenskandalmachenden Auftritt bei dem Begräbnis des serbischen DiktatorsSlobodan Milosevic mit ein.
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In seinem neuen Buch will der Erzähler, der in verschiedener Hinsichtdie Züge des Autors Handke trägt, den Balkan hinter sich lassen unddamit zweifellos auch die alten Skandale und Provokationen. Ein"Abendmahl", das er seinen Jüngern gleichenden Freunden gibt, bietetallerdings noch einmal Anlass dafür, den alten Gefühlen gegen daswestliche Europa satirisch ätzend freien Lauf zu lassen. Aufgetischtwird Schafskäse "mit dem montenegrinischen Olivenöl, das, dank Europa,seinen früheren Geschmack nach ranzigem Motorenöl ganz losgeworden und,so das Etikett auf der Flasche, als 'toscanissimo' einzustufen war. Undzu trinken gab es Weine der südlichen Morawa-Ebenen, ... inzwischenlängst in burgundischem, niederösterreichischem und kalifornischemBesitz, die aber gleichwohl ihre alten Namen hatten beibehalten dürfen... selbst der ... allgemein als 'bordeauxreif' etikettierte Wein hießimmer noch 'Amselfeld'."
Dem Autor sei seine Häme gegönnt, aber sie zeigt auch, dass er soabgeklärt, wie es teilweise über das neue Werk zu hören war, im Grundenicht sein kann. Die Anspielung auf das "Amselfeld" deutet es auch an:Der Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern steht im Hintergrunddes ersten Abschnitts des Buches. Der Erzähler begleitet eine Gruppeeines in "Enklaven" lebenden Volkes auf einer Busfahrt nach Belgrad.Eine sehr traurige Fahrt, auf der die Reisenden von Mitgliedern einesgegnerischen Volkes mit Steinen beworfen werden; auf der sie anzerstörten Häusern vorbeikommen, verlassenen Dörfern und plattgewalzten Friedhöfen. Irgendwann lässt der Erzähler diesenhasserfüllten Balkan hinter sich, erleichtert.
Auch danach bleibt das Buch von dem Motiv des Verlustes und derZerstörung durchzogen. Selbst der Erzähler ist nur mehr ein ehemaligerSchriftsteller, ein Ex-Autor, ein Nicht-mehr-Schreiber, wie es in immerneuen Wendungen heißt - und was ihn von Handke denn doch deutlichunterscheidet.
Die folgende Reise des Erzählers zu wichtigen Stationen seinerVergangenheit freilich nimmt in vielfältiger Weise auf Leben und WerkHandkes Bezug, nicht zuletzt auf ein traumatisches Ereignis im Lebendes österreichischen Schriftstellers: den Suizid seiner Mutter Anfangder 70er-Jahre. Sie hatte sich während der Abwesenheit des Sohnesumgebracht und diesem lebenslängliche Schuldgefühle hinterlassen.Handke hat dem Leben und Sterben seiner Mutter ein frühes Meisterwerkgewidmet: "Wunschloses Unglück". Im neuen Buch erscheint die Mutter demErzähler im Traum und spricht den Sohn frei von Schuld undSelbstvorwürfen: "Genug der Schuld und der Schuldsuche. Genug derSelbstmarter und der Marter der anderen."
Merkwürdig, wie distanziert letztlich das Verhältnis des Autors zu sichist, obgleich er doch so genau, so detailverliebt die Außenweltbeobachtet. Kein wirkliches Interesse daran, was die beträchtlichenAggressionen gegen Frauen - im Buch gibt es einen handfestenGewaltausbruch gegen eine Frau - mit dem Verhältnis zur schwierigenMutter zu tun haben könnten. Oder ob sich wirklich das Schreiben unddie "geschlechtliche Liebe" so schlecht vereinbaren lassen, wie er aneiner Stelle reflektiert, ob es ihn nicht aus anderen, persönlicheren,schmerzvolleren Gründen weg von den Frauen treibt.
Handke beschwört in diesem Buch stattdessen noch einmal wunderbar dieweltstiftende, nicht welterklärende, Kraft des Erzählens. DieErschaffung einer Wirklichkeit aus dem Nichts der bloßen Worte. Ob essich um Albtraumwelten handelt: Ein Stimme im Buch, ein Jugendfreunddes Erzählers, erinnert sich daran, wie dieser auf einer Wanderung soglaubhaft von Schlangen berichtete, dass er diese schon von den Bäumenherabhängen sah. Oder utopische Traumwelten: Wenn sich der Keller desElternhauses des Erzählers zu einem Gewölbe öffnet, in der Einheimischeund muslimische Zuwanderer gemeinsam beten.
So könnte es am Ende natürlich sein, und das wäre die schönere, wohlauch die gerechtere Möglichkeit, dass späteren Generationen die altenSkandale und das kunstreligiöse Selbstverständnis des Autors zuFußnoten seiner Biografie geraten. Dass sie sich lieber mit seinem Werkbeschäftigen, zu der die "morawische Nacht" einen neuen, in vielenTeilen beeindruckenden Beitrag leistet.

http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab=2&source=/kulturzeit/specials/136513/index.html
 

 
 
 

Peter Handke bei seinem Besuch in Wien (10.12.2007)  © reuters
    

Für viele ist er der wichtigste deutschsprachige Schriftsteller derGegenwart, für andere ein schreibender Naiv-Ideologe, der sich nichtzuletzt mit seinem Auftritt beim Begräbnis des serbischenEx-Präsidenten Slobodan Milosevic moralisch diskreditiert hat: PeterHandke, der gebürtige Kärntner mit slowenischen Wurzeln. Am 7. Januar2008 ist sein lange erwarteter neuer, großer Roman erschienen: "DieMorawische Nacht".
 

 
 

Ein ehemaliger Autor unternimmt darin eine Reise durch "sein" Europa.Ein Gasthaus am Rande Wiens spielt darin ebenso eine zentrale Rolle wieein kleiner serbischer Ort namens Porodin südlich von Belgrad. Es isteine stille Gegend am östlichen Rand Wiens. Mitten im Auland liegt das"Gasthaus zum Friedhof der Namenlosen". Peter Handke liebt diese Gegendrund um den Alberner Hafen, kommt, wenn er in Wien ist, angeblich immerher.
 


 

 
Weltkongress der Maultrommler
 

In Peter Handkes neuem Buch "Die morawische Nacht", in dem einehemaliger Autor von einer Reise durch sein Europa erzählt, ist auchdieses Gasthaus Schauplatz: Es ist eine von vielen Stationen auf der"Irr- und Todesfahrt" des Ex-Autors. "Es war ein Gasthof, wie nur jeeiner", schreibt Handke. Und über den schüchternen, medienscheuen Wirtist zu lesen: "Was für ein gastliches, geradezubalkanesisch-gastfreundliches Lächeln in seinen Augen." Hier findet inHandkes jüngstem literarischen Kosmos ein Weltkongress der Maultrommlerstatt. Es scheint eine Art Balkan-Ort für Peter Handke zu sein. Handkesbeharrliche Zuneigung zum "Balkan" ist nicht geografisch bedingt,sondern vielmehr gebunden an innere Bilder von so etwas wie fragiler,randständiger, unzeitgemäßer "Heimat" und beständig gefährdetem"Aufgenommen-und Angekommen-Sein".
 


 

 
 

Auch darum kreist "Die morawische Nacht": "Wo hatte er begonnen, seinund unser Balkan? Schon lange vor der geografischen und morphologischenGrenzlinie", heißt es im Buch. In gewisser Weise ist Peter Handkesneue, große Erzählung ein weiteres Jugoslawien-Buch geworden - an somancher Stelle wieder tendenziös interpretierbar, im Gesamten aber ein"still-zittriger", streckenweise durchaus ironischer Versuch desSich-Selbst-Ergründens und Sich-Verständlich-Machens als Schreibender.Als eine Abwandlung von "Tausendundeiner Nacht" hat Peter Handke seinneues Buch angekündigt: "Samara" hätte es heißen sollen, was so vielbedeutet wie "die Nacht im Gespräch verbringen".
 


 

 
 

Die Rahmenhandlung, die die nur schwer nacherzählbarenBinnengeschichten zusammenhält, ist einfach: Ein Ex-Autor lädt auf seinHausboot mit dem Namen "Morawische Nacht" ein paar Freunde ein, umihnen von seinen Europa-Wanderungen zu erzählen. Das "Haus- undFluchtboot" ankert in dem serbischen Ort Porodin, südlich von Belgradund an der Morawa gelegen, einem Zufluss der Donau - den Ort kennenHandke-Leser nicht zuletzt aus dem skandalträchtigen Text "Einewinterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oderGerechtigkeit für Serbien". Das Boot, das an einer Stelle als desEx-Autors "kleine Heimat" und "autoproklamierte Exterritorialität"ausgewiesen wird, ist bemalt in den Farben der ehemaligenjugoslawischen Fahne - ironiegetränkte Widerspenstigkeit lässt grüßen.
 


 

 
Schreib- und Lebensorte Handkes
 

Es sind die Schreib- und Lebensorte Peter Handkes, an denen derErzähler der "Morawischen Nacht" Station macht: So unter anderem aufder Adria-Insel Krk, wo Handke sein erstes Buch geschrieben und seineerste Liebe durchlebt hat, oder am Herkunftsort seines verstorbenenVaters im Südharz. Und nicht zuletzt Österreich - Österreich, das"vorgenommene Hauptziel", wie es im Text heißt, das Peter Handkeehemals als "das Fette, an dem ich würge" beschrieben hat. Heute klingtPeter Handkes Beziehung zum "Stammland" sehr viel versöhnlicher, auchwenn die Kindheitsgegend Kärnten/Koroska fremder denn je in Erscheinungtritt und sich Peter Handke mehr denn je gegen nationale Zuordnungenverwehrt.
 


 

 
 

"Schuldig gemacht, so noch immer seine Vorstellung, hatte er sich doch,indem er das Nationaldichterspiel, und wenn auch halbherzig,mitspielte, bleibend schuldig. Und warum hatte er mitgespielt?Vielleicht, weil er seinerzeit, für eine kleine Weile, in der Tat anetwas wie eine andere Nation glaubte, überhaupt an grundandereNationen, und meinte, die mitverkörpern zu können. Idiot. Dorftrottel.Hausstock."
(Peter Handke, "Die morawische Nacht")
 


 

 
 

Es sind keine Heldengeschichten, die in "Die morawische Nacht" erzähltwerden, sondern vielmehr Geschichten, die Verfehlungen als Mensch undKünstler ergründen. Die Reise des Ex-Autors endet mit dem Hinweisdarauf, dass vielleicht alles Erzählte, der Balkan selbst, bloß einTraum gewesen sein mag. Auch wenn es großteils traurig-traumhafteGeschichten sind, die Peter Handke hier entwirft - diese Prosa leuchtetvor aufmüpfiger Sehnsucht nach so etwas wie einem friedlichen Mit-Sichund Miteinander-Sein-Können:
 
"Entwurzle dich noch mehr, Freund. Es kann nicht schaden, eine Zeitlangauf der anderen Mundseite zu kauen. Ah, alle, die mit den Wurzeln ihrerHerkunft umherfuchteln wie mit Peitschen. Böse Menschen haben nur nochLieder", heißt es gegen Ende hin..."
(Peter Handke, "Die morawische Nacht")

LOTHAR
Nein, keine traurige Geschichte.
Eine schöne. Eine sehr schöne. Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat.

Lothar Struck über Peter Handkes Erzählung
»Die morawische Nacht«

Beim Lesen von »Die morawische Nacht« schwingen die Leseerinnerungendieser im doppelten Sinne »selbst-bewegten«, sich bewegenden,Handke-Protagonisten mit, beginnend vielleicht mit »Der kurze Brief zumlangen Abschied« (1972), ein Bildungs-, Such- und Selbstfindungsromanim beinahe noch klassischen Sinn (und bereits ein bisschen leichtfrauenphobisch), weiter mit Valentin Sorgers fast phlegmatischerSelbstversöhnung in »Langsame Heimkehr« (1979), die Weiterschreibungdieser An- oder Heimkunft im Drama »Über die Dörfer« (1981) durch dieFigur des Gregor, dann Filip Kobals Suche nach dem verschollenenBruder, ein »zum Staunen gemächliches Dahin« in »Die Wiederholung«(1986), der märchenhaft anmutenden, scheinbar ziellosen Exkursion (oderProzession?) der Vierergruppe aus »Die Abwesenheit« (1987). Danach seinwohl menschenfreundlichstes Stück und vielleicht eines dergrossartigsten Theaterstücke der letzten Jahrzehnte, die fast lyrische,heitere Reise zum sonoren Land im »Spiel vom Fragen« (1989), späterdann der abrupte Weggang eines Apothekers (auch ein Fluchtspielen wiehier?) aus »In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus«(1997), danach der mäandernden Durchquerung der Sierra de Gredos durcheine Bankfrau (»Finanzfürstin«) im »Bildverlust« (2002), welches denLeser – gleich seiner Protagonistin – buchstäblich verirren lässt – undvon den Reiseerlebnissen, nein: Reisewahrnehmungen (die fast immerGeh-Impressionen sind), aus Handkes Journalen (insbesondere »AmFelsfenster morgens« [1998] und »Gestern unterwegs« [2005]) erst garnicht zu reden.

Diese Bewegungen, weit entfernt vom »Reisen« im klassischen Sinn (mansage bloss nicht, Handke sei ein Reiseschriftsteller), eher einUnterwegssein, schimmert auch in den Büchern hervor, in denen derProtagonist an einem Ort verharrt – wobei dieses Sesshafte nur Produktder vorigen Expeditionen ist; nicht selten nur Zwischenstation. So istder sich (vorübergehend) niedergelassene Autor in »Mein Jahr in derNiemandsbucht« (1994) ein Erkunder, Forscher, Entdecker seinerunmittelbaren Umgebung (und die Fortschreibung dann in »Lucie im Waldmit den Dingsda« [1999], märchenhaft und gleichzeitig ganz schön sichselbst auf den Arm nehmend). Vorher der nachdenklich-reflektierende,allen Glücksversprechern endgültig Absagende aus dem »Versuch über dengeglückten Tag« (1991), einem »Wintertagstraum« und endlich (dieAufzählung ist nicht vollständig) der im wilden Garten seine Geliebtenerwartende Don Juan (2004) – all diese kaum weniger unterwegs als jene,die ihr Heil (ein Wort, das heute immer noch Abwehr hervorruft unddaher gerade von Handke verwendet wird) in der Bewegung, im Erkunden,im Schauen suchen.

»Die morawische Nacht« ist Unterwegserzählung, Erzählung über dasErzählen (es wird auktorial erzählt, was Distanz und Nähe schafft),Erzählen von Metamorphosen; Märchen, Halluzination, Nachtmahr,Erzählung über die Vergeblichkeit des Schreibens, über dieSinnlosigkeit des Schriftstellerseins, vom Glück des Schreibenlassensund damit natürlich über die Freuden des Schriftstellerseins und dessenNotwendigkeit (aber dazu später).

Ein Ex-Autor, jetzt Hotelbesitzer, lädt seine Freunde auf sein Hausbootein, jene »Morawische Nacht« um ihnen von seiner langen Reise zuerzählen. Er, der abgedankte Schreiber, der Ehedemautor, wird nocheinmal zum Erzähler, nein: er kommt zum Erzählen (dem oralen Erzählen)zurück. Er lebt schon lange in der Enklave »Porodin«, umzingelt vonFeindseligen(?), von Steinewerfern (bei der Abreise); inmitten einesverkrachten Landes. Ein Eindringling, mit Verstreuten eines ehemalsgrossen Volkes – den Walachen (nennen wir sie hier so, und die Enklaveist natürlich (wirklich?) eine serbische(?) Enklave im Kosovo oderBosnien. Obwohl das natürlich alles nicht so einfach ist, denn das Buchspielt, wie so viele Handke-Bücher der letzten Jahre, in einerZukunftszeit (hier ist es um das Jahr 2015; vielleicht sogar nochspäter und sogar die Katalanen wie die Trandnistrier und dieTalkalmüken sind inzwischen ein Staatsvolk geworden).

Litanei des Abschieds
Und alles greift ineinander. Aus dem ehemaligen Autor und Bootsherr wird mit der Zeit ein Mitgeher in der Steppe oder unser Erzähler,einmal sogar der gesamteuropäische Autor (freilich nur für einen kurzenAugenblick der Euphorie), ein Wanderer und schliesslich einOrtsdurchquerer. Reisen (dieses Reisen) verwandelt - und erweitert.

Ist die »Morawische Nacht« also ein weiteres Steinchen in derUnterwegswelt, der Suche nach dem verlorenen Augenblick, dem weitenHorizont, nach der Leere als dem wahren Ort, und nach einer»Gemeinschaft der Verstreuten«? Ja und nein. Denn dem Leser schliesstsich mit dem neuen Buch derart trefflich der (imaginäre) Kreis, dass esder Äusserungen Handkes, dies sei sein letztes, grosses epischesProjekt, nicht bedurft hätte, so offenkundig ist das.

Besucht doch dieser Ehemalige noch einmal die Stätten seines Wirkens,seines Schaffens, seines Liebens, seines Lebens und die ihn wichtigenPersonen und mehr als einmal ist vom letzten Mal die Rede (oder –Selbstironie ist ein Motiv in diesem Buch! – vom vielleicht letzten Maloder allerletzten Mal, und darauf noch ein allerallerletztes Mal).

Handke verfällt dabei nie in Melancholie bei der Erzählung dieser fürseine Figur so prägenden Orte und Menschen. (Was für Ortserzählungen!)Fernab von jeglicher Idyllenprosa oder dem üblichen Lamento, es seinicht mehr so wie »früher«. Hinweg damit! Und doch: Auf der langenReise begegnen ihm so manche Zeichen der Vergangenheit nicht mehr. DasDorf auf der Insel, dem Ort seines ersten Romans (Cordula ist Krk) – esexistiert nicht mehr. Die ehemalige Geliebte – eine alte, verhärmte undschimpfende Bettlerin ist sie geworden.

Im Karst, wo sich nur noch drei Versprengte (Anfangs waren sie nocheine geradezu stattliche Gruppe gewesen) treffen, die der Idee oder demHirngespinst von einem zusammenhängenden grossen Land auf dem Balkan,in einem anderen Europa nachgingen und eigen- oder starrsinnig (derTrotz!) daran festhalten, der einstige grosse Zusammenhang seivielleicht doch weniger ein Zwang als eine mit der Zeit und mit denGenerationen gewachsene Zusammengehörigkeit gewesen, selbst dort hältMitteleuropa, diese herrschende Norm Einzug. Der Ort hatte seine Zeitgehabt (das alte Karstweltreich ist vorbei), die Stille war nicht mehrdas allein ihn Bestimmende. Nur noch der Aufwind unten vom Meer, derunvergleichlich sanft über die Hochfläche fächelte und dasHimmelslicht, weitergegeben auf dem Erdboden von dem löchrigenKarstkalkstein mag die Erinnerung erzeugen, nein: die Wieder-Holung;für einen ephemeren (Glücks-)Moment.

Und die Menschen, die er sucht; aufsucht? Auch diese zum letzten Mal?Der Politiker muss Pablo aus den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit«sein (kein Name fällt). Heute ein Möchtegernmaler, nachdem einGeistesgestörter ein Attentat verübt hatte, zittrig, redselig, seineSchussnarbe jedem zeigend, ohne Freunde. Filip Kobal – er istFilmregisseur und Drehbuchschreiber geworden und auch für ihn hat dieLiteratur verloren. Und Gregor Keuschnig, jener Diplomat aus »DerStunde der wahren Empfindung« (1975), der in der Niemandsbucht der(bereits damals reichlich desillusionierte) Schriftsteller war undinzwischen heimgeflüchtet? Er findet ihn nicht – man findet sich nicht.Nur einen Mann, der ihm äusserlich ähnlich sieht. Noch einer in diesemTreck der Abwesenden. Der Erzähler nimmt dies ohne Rührung und ohneVerbitterung auf dieser Litanei des Abschieds (und des Neubeginns?).
Ja, tatsächlich: Dieses Buch ist aber auch versöhnend. Und wie.Versöhnung beispielsweise mit Deutschland, von dem er überrascht ist:doppeltes Staunen. Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nichtdurchwandert haben, weder vorher noch nachher. Dabei traf er in derGegend niemanden sonst, der las.
Versöhnung auch mit seinem Vater, den er nie kennenlernte und niekennenlernen wollte  (verdammte Vaterlosigkeit) – wobei: nein,Versöhnung ist das falsche Wort – es ist ein Loslassen, einZiehen-lassen, ein seinen-Frieden-mit-ihm-machen. Frieden, endlich.»Der ewige Friede ist möglich« sagt Nova in »Über die Dörfer« undneulich meinte Handke in einem Interview dieser Satz sei »hirnrissig«und weil er dies so sagt, gilt er, der Satz, immer noch. Und immerweiter (warum sonst weiterleben?).  
Und auch kein schlechtes Wort über die Heimat, das kleine LandÖsterreich. Obwohl oder trotz des Besuchs in Gutenstein und demTotengespräch mit Raimund (dem Handke schon im »Spiel vom Fragen« mitder Figur des »Mauerschauers« huldigte) – keine Larmoyanz; keinsolipsistisches Kokettieren.»Im Ort des Selbstmörders ist kein Platzfür ein Wort mit 'Tod'. Und ausserdem: Ja, weißt du denn nicht, lieberFreund, dass es das Eigen des vernünftigen Menschen ist, nicht über denTod nachzudenken, sondern einzig über das Leben?«

Weiter zum Heimatdorf. Auch hier erkennt er nichts oder kaum etwaswieder, sieht es als »Samarkand" mit morgenländischer Bevölkerung. Einungastlicher Empfang; alles stellt sich gegen ihn (Heimkehr oderdrohende Lieblosigkeit?) und nicht einmal ein inneres Grüssen stelltsich am Grab seiner Vorfahren ein. Stattdessen Schuldgefühle – auch undvor allem der Mutter gegenüber (der Leser denkt sofort an »WunschlosesUnglück«), sie im Stich gelassen zu haben, und mit seinenSchreibversuchen habe der Jugendliche seinerzeit…das häuslicheLeben…sogar zerstört. Aber dann doch irgendwann einin-den-Schlaf-fallen und anschliessend der Besuch im Haus des Bruders,einem globalen Wanderarbeiter, erkannt nur durch Eingebung (wie so oftin diesem Buch) – und unterirdisch dort,  im ehemaligen Apfelkeller,ein Gotteshaus (insgeheim, nicht offiziell jedenfalls, nirgendsangezeigt) für Christen und die Neuzugezogenen, die der Moscheeallmählich überdrüssig Gewordenen. Und es kam mehr und mehr vor,dass…die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie obenin der Schenke sich unten in der Katakombe zusammen fanden. Und? Nichtssonst. Nichts sonst als der gute Wille, und die Menschen guten Willens!

Gemeinschaft der Gutwilligen
Ja, so sieht Handkes Gesellschaft, nein: Gemeinschaft der Gutwilligen,der »Verstreuten«, der Leser, der Stadtrandbewohner, der Zu-Fuss-Geheraus. Ein feindloses Miteinander – alles weit jenseits dessen, was man»Volk«, »Nation« oder »Reich« oder auch Mitteleuropa nennen könnte(…eure freie Welt kann mir gestohlen bleiben sagt der Buschauffeur ineiner Wutrede und spielt dabei »Apache«). Das Unterwegssein derProtagonisten bei Handke ist auch immer sehnsuchtsvollesEntdeckenwollen dieser virtuellen (virtuellen?) Gemeinschaft.

Und welche Bilder ihm dabei gelingen. Als der Ex-Autor mit dem Bus ausder Enklave praktisch in die Welt fährt – jenes Miteinanderstehen undgleichzeitig Distanz haben. Vor allem dann, nach einer Pause, kurz vorder Weiterfahrt der Blick auf eine Menge Umherstehender, und aber dann,wir zurück im Bus, dieser im Losfahren, eine, eine einzige Bewegung inihr, der Menge, der Überzahl, von einem einzelnen. Einer von unsdrinnen, auf seinem Fenstersitz, hatte plötzlich, so als sei nichts,als sei nichts gewesen, als sei nie etwas gewesen, hinausgewinkt…DerEx-Autor, indem er dem Blick des Winkers, der Winkerin, folgte, fanddann auch heraus, wem. Klar ausserdem, dass ein Kind gemeint war? Nein,bei einem einzelnen Alten oder Erwachsenen hätte er sich ebensogewundert. Jedoch das Winken zielte, ja, es zielte, auf ein Kind, obzufällig oder nicht. Und das Kind, fast versteckt in der Masse, eswinkte zurück…Was war das freilich für ein Winken gewesen!

Das Kind, aus dem »Feindvolk«…Es schämt sich. Es ist ihm peinlich. Eswird rot. Es möchte wegschauen. Es möchte überhaupt weg. Und es möchteganz und gar nicht weg. Die zitternde Sekunde, dieser Augenblick desGlücks, dieser Moment des vollkommenen Einsseins mit sich und der Welt– um dieser ephemeren Momente willen kreist dieses Buch, kreist HandkesWerk und manchmal gelingt es ja, und dann rollt ein Ball aus demGebüsch (wieder denkt man an Peymanns Inszenierung vom »Spiel vomFragen«), grüsst ein Läufer, ein Schuhband wird geknüpft, eine Zeitungsinkt im Wasser auf den Grund und nirgends, »nie wo«, ein Faustunterwegs auf der Pfingstschneise (sic!) geschweige denn ein Mephisto,ein Nero, eine Medea…und schon gar keine Spur von Ku-Klux-Klan,Dschingis Khan, Karla vom Bruck, Gringo Busch, Papa Benedetto, JosipFischerman, Magdalena Ganzhell, Bernhard-Hinrich Glückskraut, OssimWeichsohn… (und wer errät jetzt diese Damen- und Herrschaften?)

Oder das Erzählen der Busgesellschaft beim Picknick, vor oder nach oderwährend eines Friedhofbesuchs. Oder wie der Ex-Autor in einem Zug einejunge Leserin kennenlernt (Sie lebte sichtlich mit dem Buch da,buchstabierte es nach, befragte es, befragte sich, war mit ihmverbunden, wurde uns war mit ihm eins.). Oder das Gehen am Stadtrandund das Verdingen als Helfer, um etwas zu verdienen.

Aber auch dann das Zelebrieren des Alleinseins (dem Alleinseinverfallen). Beispielsweise mitten im Fussballstadion, so mittendrin wienur möglich, wusste er sich…ausgegrenzt. Mochte er mit den Unbekanntenrundherum noch so viele komplizenhafte Zuschauerblicke austauschen: Erblieb allein. Und auf dieser Rund- und Zickzackreise mehr als einmaldie Ambivalenz der Sehnsucht einerseits von Menschenlosigkeit alsBedingung (nicht nur beim Obstdiebstum, was so duftig locker, wienebenbei erzählt wird). Und nur dann diese nahen Horizonte zu erleben,die Notwendigkeit der gar nicht vertrauten Einsamkeit – andererseitsdie ständige Frage des Schmerzes des Ausgestossenseins: Menschenfeindoder Weltliebhaber? Was passt zum Schwermütigen (eine Zuweisung vonPeter Hamm, die Handke hier phasenweise übernimmt)? Oder ist beidesnotwendig, ja: gleichzeitig Voraussetzung? Oder ist es (war es) nur einWesen des Schreibens, diese gewisse Gesellschaftsunfähigkeit (nur»gewisse«?); eine Menschenfeindschaft… unheilbare? Und wie sagt man ihmauf dieser Reise: Wirst nie zur Menschheit gehören.

Und dann jener Mitgeher Melchior, der sich rasch zum hämischenVerhöhner wandelt – und auch diese Stelle selbstironisch;selbstquälerisch. Die dichterische Sprache ist tot, so der Peiniger,Spiegelvorhalter, Spielverderber, es gibt sie nicht mehr, oder nur nochals Nachahmung, als Gehabe…Schluss mit eurer Schreiberwürde. Wenn heuteSchreiber, dann entschlossen würdelos. Ja, wir von heute sind endlichdie Würde los…kein Wort und keine Sache sind für uns tabu. Und es gehtweiter: Einzig meine Sprache, die Zeitungssprache, lebt. Allein sietrifft ins Schwarze, kommt auf den Punkt, ist unverschnarcht. Melchiorentpuppt sich als Journalist, oder reicher Verleger, vielleicht sogarMedienmogul (ein Anti-Burda? ein Burda?). Und du, mein Teuerster: aufden Müllhaufen der Geschichte mit dir. Den letzten Rest deiner Ehrehast du ohnehin schon verloren, indem du auf dem Balkan lebst, und denBalkan liebst. Was vielleicht einmal das Besondere war an dir unddeinesgleichen, das – höre, du Möchtegern! – Stiftende, das ist nurnoch Abweichlertum. Nicht einmal eine Minderheit unter den Schreibendenund Veröffentlichenden seid ihr paar, die auf dem Dichterischen besteht.

Melchior, der Mephisto, der nach den Augenblicken so schön nun seinRecht fordert: Vor allem keine Sprach- und Schreibprobleme.Arrangieren, das heisst: Die Sätze für gleichwelchen Sachverhalt ebensofür gleichwelche zu beschreibende Person, samt deren Psyche, stehen vonvornherein zur Verfügung…nur kein Zögern mehr…Wenn jemand von der Seeleanfängt, vom Wind, von der Liebe, vom Inbild, lache ich ihm nicht nurins Gesicht, sondern mache ihn fertig. Ich glaube ihm nicht. Er lügt.Also Büchersprache gleich Journalistensprache. Anders keine Wahrheit,anders keine Realität, so Melchior.

Das ist Handkes »Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eineandere« (so der Titel einer Erzählung aus dem unlängst wiederaufgelegten, fulminanten und wunderbaren Erzählbandes »Noch einmal fürThukydides«). Denn vorher beklagt, nein: postuliert der Ehemalige nocheinmal, dass sein Schreiben ein Hinauszögern war (ist?), ein Verpassendes rechten Moments, ein nicht sofort 'in media res' gehen und genaudas war es jetzt, was ihm in der Ablehnung durch Melchior alsgegenwärtig erschien. Und dadurch wird dieses ganze Buch, diesesmäandernde, sich verzweigende Erzählen ein Gegenentwurf zu dieser fastalles beherrschenden Journalistensprache.

Von den Übergängen
Und soviel Flehen war in der Welt lässt er Filip Kobal sagen, stummes,soviel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie. Und sovielSeufzen war zu hören, für den, der Ohren hatte zu hören, schamhaftes,sprachloses, wie noch nie. Und das ist Handkes – ja, was? Botschaft?nein – Gebot für diese (und für die spätere) Welt: Und die stummFlehenden und die sprachlos Seufzenden verlangten, ja lechzten danach,gefragt zu werden, und ebenso, Antwort zu bekommen. Und dieses Fragenund dieses Antworten ist – das ist Handkes Überzeugung – eben nichtdas, was uns so einfällt, wenn wir Verlangen hören, spüren, fühlen.Nicht mit den Mitteln des profanen Materialismus alleine ist demletztlich beizukommen – daher die Ablehnung an das entseelte,welt-fremde, das sich nur noch als Wirtschaftsraum (oder wer weiss was)definierende Mitteleuropa (und dieses Mitteleuropa, so Handke schon vorvielen Jahren, stellt eben gerade KEINE Verbindung zwischen den Völkernher).  

Da soll, da muss es mehr geben. Vermutlich würde Handke das Attributdes (philosophischen) Existentialisten ablehnen, aber auf eine gewisseArt kommt dies seiner Intention am nächsten. Die Geworfenheit alsMöglichkeit begreifen, ja: als Pflicht auffassen – und das Dasein alsDasein neu zu entdecken, zu retten und loszulösen aus der faden undvernebelnden Alltäglichkeit des »aktuellen« Daseins. Zuweisungen wie»Innerlichkeit« oder ein profanes »Zurück zur Natur« greifen davollkommen ins Leere.

Handkes Protagonisten sind »aus-der-Welt-Gefallene«, Gott-Verlassene,Verlorene in einer lieb- und im emphatischen Sinne leblosen »Um-Welt«.Intuitiv wehren sie sich gegen diese sie umgebende "Allerwelt" – eineGrundbedingung, eine Sehnsucht (nein, Handke scheute nie die sonst soabgedroschenen Wörter). Und der dann folgende Prozess, der als Ziel,nein: Zweck immer eine (die!) Verwandlung ist, ein Übergang in einanderes System, Übergehen von der einen Welt in eine zweite, die, fürihre besondere Zeit, mit genau so grossem Recht Welt genannt werdenkonnte, Übergehen in ein anderes Weltgeschehen. Daher diese Unterwegs-,Geh-, Busfahr-  und Reisebilder – die »Erkenntnis" erfolgt durch eine»Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens« (Botho Strauß). Sie, dieBedürftigen, werden zu Pfadsuchern – nicht Pfadfindern. Und der Leserist zu diesem Pfadsuchen eingeladen – das Finden muss er dann selberbesorgen (als könnte Literatur 'Ergebnisse' liefern, wie all diefalschen Literaturpropheten weiss [und schwarz] machen wollen).

Allerdings, »die weitaus grösste Gefahr…in diesen Zuständen meinerEntrücktheit«, so lässt Handke den Gastgeber fast demütig sinnieren:»In Gestalt eines Ausschnitts, einer Strasse, eines Hauses, einerPlakatwand, eines Menschen erscheint mir, über die ganze Welt hinaus,hinter oder jenseits von ihr, das Weltganze im Sinn von etwasGanzgebliebenem. Wider mein, wie sagt man, besseres Wissen erscheintmir eine heile Welt, und diese heile Welt drängt sich mir auf als diehöhere, als die gültige Wirklichkeit«. Und dann »fehlte nur, dass mirin dieser Entrückung die Welt zur besten aller möglichen Welten würde.«

Langsame Heimkehr ins nicht mehr existierende Land
Die Enklavenmetaphorik ist in mehrfacher Hinsicht adäquat: Zum einenist das verlorene Subjekt inmitten der Lieblosigkeit eine »Enklave« (er[oft eine 'sie'] ist noch nicht vollends und auf ewig »verloren«). Unddann sucht dieses Subjekt inmitten all diesen Lebens nach diesemEinssein mit der Welt, und das ist dann ein Schuhputzer in Split oderdie so vielen verschiedenen Kopfbedeckungen auf dem Markt in Skopjeoder die Eiche in München oder der bewaldete (und späterwald-abgebrannte) Mont St. Victoire oder die Jukeboxen in Spanien oderdie Viehsteige in Slowenien, die kleine Rätsel aufzugeben scheinen oderdie Bahnhofsgesellschaft inmitten Spaniens oder die Glühwürmchen in ichweiss nicht wo oder ein schräges Leuchten aus den Wolken. Und schau,das war manchmal das Leben, und alles zerfranst und auch das - war dasLeben.

Einiges geschieht noch in diesem Buch; viel Launiges undselbstironisches. Ein Symposium der Lärmgeschädigten (Amokläufer ausWehrlosigkeit) in der spanischen Steppe (und dann erzeugen dieseweiteren Lärm, der sie dann merkwürdigerweise nicht stört). Oder dasWeltmaultrommeltreffen in einem Gasthaus (seltsame Gesellschaft derfast Blicklosen, Schüchternen dort). Oder das Verfolgen des Ex-Autorsdurch einen sich stets chamäleonhaft anpassenden Hund (welcherKarasek-Dummkopf mag da diesmal einen Kritiker erkennen wollen?). Oder– und vor allem – diese Begegnungen mit der Frau, diesergeheimnisvollen Fremden vom Hausboot, der Manchmal-Erzählerin – malFeindin, mal kommende Geliebte; Schönheit und Güte und gleichzeitig,nein: später (oder früher) Angst und Grauen (und selten ist Handke wohlintimer gewesen in seinem Erzählen über die Frauen und selten, nein,vermutlich nie kindlicher).

Und am Ende, zurück auf dem Balkan, die lange (nicht mehr langsame)Heimkehr am Tag des Marienkäfers…nach diesem der Tag derWeinbergschnecken…der Tag der Smaragdeidechsen…der Tag der Schwalben,die dir unversehens hoch oben in dem Blau des Himmels erschienen, vonnirgendwoher geflogen, wie von dem Himmelblau selber hervorgerufen, undzwar zuhauf, und so binnen einer Sekunde den eben noch leerblauenLuftraum durchkreuzend, -segelnd, -kurvend, -flatternd, -flitternd. Unddann der Tag der Bienen in den weissen Kleeblüten, die davon zitterten.Und dann der Tag der sich paarenden Libellen…
Nach dieser langen Zeit des Reisens ist auch die Enklave keine Enklavemehr. Der Ex-Autor wird zum Schiffsbedürftigen, den »Neuen« gehört nunder Planet allein. Die Enklavengeräusche und vor allem –gerüche: Es wareinmal? Dafür das ständige Alarmschrillen aus den geparkten fabrikneuenAutos. Fehlten nur noch Fussgängerzone und das Lächeln tibetanischerMönche. Fehlten sie?
Aber auch hier ein Versöhnungston, waren doch die Protagonisten desNeuen in den »Zurüstungen für die Unsterblichkeit« noch Aliens,Ausserirdische, »Raumverdränger«, so lässt es der Autor nun geschehen,»gehorcht« seinem Gesetz (es ist mein Amt, nicht zu handeln),konzidiert sie waren von hier, und hielten die Stellung im Jetzt.
Und plötzlich ist dann alles nur ein grosser Traum? Das Hausboot nochnicht ausgeschaukelt? Der Ex-Autor doch noch ein Autor? »Porodin« warnie eine Enklave gewesen. Die balkanischen Enklaven lagen woanders. DieErzählung wurde aufgeschrieben? »Kommt, her mit euch, ich muss eucheine traurige Geschichte erzählen!« Eine traurige Geschichte? Man würdesehen. Nein, keine traurige Geschichte. Eine schöne. Eine sehr schöne.Aus der Zeit, als das Schreiben noch geholfen hat. Lothar Struck

Alle kursiv gedruckten Wörter und Passagen sind Zitate aus dem Buch:
Peter Handke Die morawische Nacht
Erzählung / Suhrkamp / 561 Seiten, Gebunden
Euro 28,00 [D] / Euro 28,80 [A] / sFr 47.00 / ISBN 978-3-518-41950-2