MISCELLA

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 Das grosse Staunen des Peter Handke
In seinem neuen wunderbaren Buch =Gestern unterwegs= erfaehrt man das Glueck des Lesens

Von Ulrich Greiner


Als die Jaeger und Sammler von den Ackerbauern verdraengt wurden, kam das Zeitalter der Sesshaftigkeit. Jahrhunderte hatte es Bestand, aber nun scheint es vorueber. Heutzutage ist fast ein jeder staendig unterwegs, sei es freiwillig, um das Rad seiner Geschaefte in Gang zu halten; sei es unfreiwillig, weil ihn das Rad des Schicksals von Exil zu Exil wirft.
Was aber ist von einem Mann zu halten, den es folgendermassen umhertreibt? Es muss sich um einen von Interpol gesuchten Kriminellen handeln: Im November 1987 begibt er sich unauffaellig (teils zu Fuss, teils mit dem Bus) von Kaernten nach Slowenien, wandert weiter nach Zadar, Split und Dubrovnik, bis er schliesslich nach Thessaloniki und Athen gelangt. Dort scheint man seine Spur gefunden zu haben, denn urploetzlich fliegt er nach Kairo, verbringt dort einige Tage und taucht im Januar in Paris auf. Am 15. des Monats jedoch sehen wir ihn in Berlin, kurz darauf quaelt er sich durch die deutsche Provinz: Bremen, Hildesheim, Fulda, Frankfurt, Muenchen. Auch dort wird ihm der Boden zu heiss. Im Februar eilt er nach Bruessel, Gent und Bruegge, um kurz darauf in Tokyo zu landen. Dort erblickt er eine ihn anziehende Schoene, aber anstatt ihr zu folgen, flieht er im Schneesturm nach Hokkaido, findet auch dort keine Ruhe und begibt sich nach Anchorage und Fairbanks.
Alaska im Maerz: Das sollte ein halbwegs sicherer Ort sein. Unser Mann jedoch fliegt nach London, und am 18. Maerz sehen wir ihn in Lissabon, spaeter in Porto und Vigo. Am 1. April jedoch ist er in Leon, kurz darauf in Arles, Wien, Aquileia. Juli Paris. Im Herbst sucht er von neuem Slowenien auf, den Jahreswechsel 1988/89 verbringt er in Schottland, wiederum eingenaesst von Stuermen und Schneeschauern, reist aber schon Ende Januar in die Normandie, gibt sich dort als interessierten Betrachter der Kathedralen von Rouen und Amiens, was aber ihm nichts zu helfen scheint. So wandert er denn, als Rucksacktourist verkleidet, im Februar zwei Wochen querfeldein durch die Pyrenaeen. Im Maerz jedoch sehen wir ihn im Schnellzug auf dem Weg von Barcelona nach Cordoba, und am 6. April fliegt er von Malaga nach Mailand.
Der Schnee: =Ein helles Daherfliegen ueber die blaugruene Heide=
Wir wollen seine Irrfahrten nicht weiter im Detail verfolgen, sein Reisetagebuch umfasst 550 Seiten. Deshalb nur im Zeitraffer eine Auswahl der weiteren Stationen: Arezzo, Assisi, Wien, Frankfurt, Paris (offenbar hat er hier eine Art Wohnsitz), Cannes, Wien, Muenchen, Venedig, Paris, Bruessel, Amsterdam, Lyon, St. Moritz, Florenz, Udine, Triest und wieder Slowenien (weshalb immer Slowenien: befindet sich hier der Ort seiner Untat?); dann Frankfurt, Metz, Nantes, Bordeaux, San Sebastian (jetzt schreiben wir den Dezember 1989), Vittoria, Soria, Valladolid, Salamanca, Madrid, Barcelona, Strassburg, Luettich und endlich Paris, Juli 1990.
Ja, es handelt sich um Peter Handke. Nein, es handelt sich nicht um einen Gejagten. Das Gehen foerdert das Denken, wie schon die Griechen und ihre Peripatetiker wussten. Auch Handke erfaehrt es: =Merke es dir, endlich: Das Gehen ist (d)eine Erkenntnis – das lange, ausgreifende, vielfaeltige Gehen, ueber Berg und Tal (so wie heute von Tarcento ueber Nimis =Faedis bis Cividale, tagelang, bis in die Nacht); die Welt will von deinen Schritten durchfurcht werden = ja, ich muss mehr ueber die Huegel stuermen!= Da befindet er sich mal wieder auf einer seiner Wanderungen, nun im Friaul. Zweimal wandert er durch Slowenien, einmal durch die Pyrenaeen, ein andermal ueber schottische Hochmoore und hinauf auf den hoechsten Berg dort:
=Ein grosses Rauschen empfing mich gerade bei der Ankunft auf dem Gipfelplateau des Ben y Vrackie, Rauschen wie vom Berggeist selber, und es kommt von einem kleinen Bach unter dem Heidekraut; und dazu mein Ausruf: +Jetzt wird es schneien!+    Und schon geschah ein helles Daherfliegen ueber die blaugruene Heide, +flieg ins offene Buch, Schnee! Bring es zum Knistern!+ Und es knisterte.     Und wie nun das Schneewehen die Farben aufscheinen laesst, auch an mir, dem einzigen Lebewesen weit und breit   =Sphaere des Schneiens, Spektrum des Schnees. Vom Westen die Regenwolken anreisend, von Osten die Schneewolken, deren feine, rhythmische Schwaden im Gegensatz zu den formloseren, regellosen Regenwolken, und in der Mitte des Geschehens beide Wolkenzuege ineinander uebergehend zu einem gewaltigen leuchtenden Dunst.=
Solch wunderbare Naturbeschreibungen machen dieses Tagebuch (es ist voll davon) zu einem einzigartigen Leseerlebnis. Aber man ahnt, dass dieses vollkommene oeffnen aller Sinne seinen Preis hat: die Einsamkeit. Als waere er Friedrichs Wanderer im Nebelmeer, zieht Handke einsam durch naechtliche Strassen und ueber sturmumtoste Felder, ein Moench hingebungsvoller Wahrnehmung. Selbst trostlose Landschaften (unsereins wuerde sie trostlos nennen) schrecken ihn nicht, solange er nur gehen kann: =Das Gehen auf den ehemaligen Eisenbahnschienen durch die Steppe beim ehemaligen Bleibergwerk im Gegenwind; bergauf ueber Kalkhaenge; der verfallene Olivenbauernhof, umstanden von Eukalyptus, der rauchende Abfallhang, all das beitragend zum Gehgefuehl, zum In-der-Weite-sein, zwischen den oelbaeumen, die rauschten und tosten, an einer Stelle das laengst ueberfluessige Warnkreuz +Achtung Zug+, verrostet inmitten der oelgaerten; zurueck in die bei der Kaelte und dem Wind wie leere Stadt; der heikle, gar empfindliche Zigeuner in der Bar, vorwurfsvoll auf die eine Fliege da zeigend (die ihm dann auch prompt in das Bier fiel).=
Tagelang, wochenlang oft spricht er mit keinem einzigen Menschen. Einmal notiert er: =Unterwegs: die Momente des Behaustseins enttaeuschen mehr und mehr; das Unbehauste dagegen wird immer heimischer.= Und doch: Zuweilen lastet das Alleinsein schwer auf ihm. Er nennt es dann =Sorge=, ein von seinem Freund und Gewaehrsmann Hoelderlin entlehntes Wort, Inbegriff der aengstlichkeit und Kleinmuetigkeit. Zwar redet er sich immer wieder guetlich zu: =Es ist kein Unterschied zwischen einer falschen und richtigen Sorge   die Sorge an sich ist falsch.= Aber dann wieder betet er um Befreiung: =Lass endlich den Ernstfall eintreten, damit ich die Sorge los bin und handeln kann!=
Dieser =Ernstfall= (nein, es geht nicht um Krieg) tritt zweimal ein      in der Liebe. Die erste zu einer schoenen Unbekannten, offenbar englischer oder amerikanischer Herkunft. Handke plaudert ja niemals Intimitaeten aus, aber immerhin doch dies: =Das +Pritzeln+, Klicken, Knacken, maschinenhaft, gestern der Heupferdchen im Karst ueber dem See von Doberdob, unter dem fast identischen Geraeusch der ueberlandleitung. Und die schwarzen Maulbeeren in der Wildnis. Und das Rot ihrer Lippen mit dem Rot der Erdbeere. Und die aus der Steppe mit heiserem Gebell hervorbrechenden Rehboecke. Und ihr weisser Reisstrohhut in der huefthohen blumenreichen Savanne.= Mit der zweiten Liebesgeschichte, ueber die wir wiederum fast nichts erfahren, endet das Buch. Sie scheint von Dauer, denn der Autor begibt sich auf die Suche nach einer Wohnung, die offenbar nicht nur fuer ihn allein bestimmt ist.
Bevor er am Ende zur Ruhe kommt, sehen wir ihn unterwegs, wie er den wunderbar weisshaarigen alten Schuster in Tripoli beobachtet; den Wachhabenden vor der amerikanischen Botschaft in Tokyo; den Lesenden in Cambridge (=sie kuesste ihn, der las; er las befluegelt weiter    Blick durch ein Erkerfenster, Abbey Road=); die allein wartende Frau in einem spanischen Hotel. Er ist unterwegs bei jedem Wind und Wetter, mit Sonne, Mond und Sternen; unterwegs im japanischen Bambuswald (=mein Klopfen gegen die Bambusschaefte im grossen Bambuswald, allein, der letzte Mensch, bei Wind und grauer Kaelte=); unterwegs mit Hoelderlin, Novalis, Inoue, Wittgenstein, Epiktet, Tschechow, Skacel und immer wieder der Bibel.
Die Bibel liest er im Original und macht sich uebersetzungskritische Anmerkungen. Er geht in die Kirchen und Museen, und es sind vor allem die biblischen Darstellungen, die ihn anziehen. In Amiens sieht er, =wie die Schlafenden im Mittelalter immer dabei ihr Gewand festhalten: sich wegtraeumend daran festhalten=; und in Sansepolcro sieht er den Auferstandenen des Piero della Francesca, =noch tief erschrocken vom Totsein=. Bemerkenswert, wie sehr sich Peter Handke dem Katholischen und also seiner Herkunft wieder naehert, ein kenntnisreich und voller Skepsis Glaubender. =Die Geschichte Jesu als eine dramatische Entdeckungsgeschichte: die Entdeckung des Goettlichen in sich   die wiederum zum Menschendrama an sich fuehrt=, schreibt er einmal, und damit ist sicherlich auch gemeint, dass wir alle das Goettliche in uns suchen sollten. Jedenfalls sucht es Handke, selbst wenn dieses Goettliche nicht unbedingt moraltheologisch korrekt ist und hoelderlinsche Eigenschaften hat.

Er ist wahrhaft ein Pilger, aber nicht im Sinne von Georg Thurmairs Kirchenliedklassiker Wir sind nur Gast auf Erden, denn dafuer interessiert ihn diese Erde allzu sehr, und wir lernen sie durch ihn wieder kennen, als waere sie uns neu. Seine Pilgerschaft traegt religioese Zuege, in der Hauptsache aber ist sie aesthetisch begruendet   im urspruenglichen Sinn, denn aisthesis heisst Wahrnehmung. Wenn er etwa ueber den Begriff der =Levitation= bei Teresa di Avila nachdenkt, schreibt er: =Du kommst da doch, obwohl leicht levitiert, auf deinem Grund an und schaffst, in der so genannten Levitation, die Verbindung zu deinen Gruenden, immer wieder; also hab keine Angst dabei vor einer Unwirklichkeit; der Wirklichkeit der Historie zieh vor die des je Geschehens, Werdens, Seins, Verschwindens   das ist die Kategorie, und nicht die Geschichte.=
Die Kinder halten die Hand in den Regen: Das ist ihr Gedicht
Das ist ein romantisch-philosophisches Projekt, es bezieht sich auf die beruehmte Forderung: =Die Welt muss romantisiert werden.= Was das heissen soll, erlaeutert Novalis so: =Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewoehnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Wuerde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.= Nichts anderes tut Handke, und er tut es im Bewusstsein einer Tradition, der er ausdruecklich angehoeren moechte. Der Wille, einer der =Grossen= (er schreibt sie meist in Anfuehrung) zu sein, taucht in mehreren Notaten auf. Folglich ist das hier erzaehlende Ich kein privates, sondern ein beherrschtes, geformtes, das gerade deshalb Macht, Ausdrucksmacht gewinnt. Der Effekt, der sich auf den Leser uebertraegt, ist wahrhaft zauberisch: Nach und nach (und man kann dieses grossartige Buch nur nach und nach lesen) verlangsamt man sich, gewinnt Gehoer fuer die Stille, die Handke immer wieder fordert und findet, schliesslich ein Auge fuer das scheinbar Unscheinbare und Schoene, das uns =Handwerkern= (Hoelderlin) zumeist entgeht, immerzu geplagt von den Geschaeften des Alltags. Wem ist das schon aufgefallen: =Das seltsame Gruessen der Schotten, den Kopf zur Seite verrenkend, als jucke sie etwas am Hals.= Oder dies: =Der Saeugling, chauffiert in seinem Wagen von der Mutter, laesst deren Liebesblick schmunzelnd ueber sich ergehen.= ueberhaupt die Kinder: Ihr Anblick erregt in Handke die mildesten und frohesten Gefuehle, und einmal erkennt er in ihnen einen Got-tesbeweis. Oder das Dichtertum: =Die Kinder als Dichter: sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht.= Und dann beobachtet er dies: =Ein Kind zum andern: +Und was kannst du?+ Das andere Kind: +Ich kann gar nichts.+ (Begeistert:) +Ich kann ueberhaupt nichts!+=
Man moechte endlos zitieren. Wir erfahren =das Erzaehlen als das grosse Staunen= (das ist ja sein Ziel, das er konkurrenzlos erreicht) und finden es ganz natuerlich, =dass es so uebergeht ins Singen=, wie in den grossen Epen. Von einem Buch zu sagen, es mache gluecklich, klingt nach Peter Hahne. Dieses stammt von Peter Handke. Es zu lesen beschert Glueck.  


Peter Handke
Von der Geburt des Gedankens
Notizen =Gestern unterwegs=jetzt als Buch erschienen
von Irmgard Schmidmaier, 09.08.05, 11:52h, aktualisiert 17.08.05, 19:11h
 Salzburg/Wien/dpa. Er nennt sich einen =Augenblicksdenker=: In seiner neuen Veroeffentlichung zeigt sich Peter Handke einmal mehr als der Poet, der sich die Welt ueber das Wort aneignet, aber auch als der Auserwaehlte, der bestimmt ist, den Dingen schreibend ihren Sinn zu geben. So definiert er sich selbst zu Beginn des dicken Bandes mit Aufzeichnungen, die jetzt im Salzburger Verlag Jung und Jung unter dem Titel =Gestern unterwegs=erschienen sind, ueber eine Abgrenzung: =Nichts verstehe ich, nichts will ich verstehen von den Leuten, die nichts im Sinn haben; die unkuenstlerisch sind=.
Entstanden sind die Notizen und Bemerkungen zwischen November 1987 und Juli 1990. Sie umspannen damit eine Phase des Umherreisens zwischen den Salzburger Jahren von 1982 bis 1987 und dem Entschluss, sich in Frankreich, in der Naehe von Paris wieder nieder zu lassen. Auch literarisch schliessen die Aufzeichnungen an die Zeit in Salzburg an, die er in seinem Band =Am Felsenfenster morgens=von 1998 reflektiert.
Handke uebertraegt hier sein poetisch definiertes Selbstverstaendnis als Suchender, Fragender, der Welt naiv Begegnender in die reale Bewegung des Reisenden. Seine Eindruecke haelt er wie in einem Arbeits-Tagebuch in kurzen Gedanken und Beschreibungen fest. In Sprache und Art der Beobachtung spiegeln die Notizen das Nomadisierende, das Sprunghafte und Suchende wider.
Die Saetze brechen mitunter ploetzlich ab, Gedanken sind oft als Fragen formuliert, bisweilen als Appell: =Eins meiner Probleme: ich moechte, an Ort und Stelle, alles sehen - und gerate so in den Wirbel (=Der Bildverlust=). Lerne, Reisender, die Augen zu schliessen=. Es finden sich auch zahlreiche Querverbindungen zu Werken, die im Anschluss an die Reisejahre erschienen sind, sehr haeufig etwa =Der Bildverlust=ebenso wie Rueckgriffe und Erinnerungen an fruehere Werke.
In den fast drei =heimatlosen=Jahren reist Handke durch Jugoslawien und Griechenland, nach Aegypten und Japan, immer wieder kurz nach oesterreich, nach Spanien, Frankreich, Belgien, England und Deutschland. Rondo-artig kehren bestimmte Wege und Motive zurueck und bilden Fixpunkte in der sprachlich-gedanklichen Selbsterkundung: Spaziergaenge auf Friedhoefen, Momentaufnahmen aus Cafes oder Gasthaeusern, Besuche in Kirchen.
Immer wieder holt den bewusst und offenbar gern einsamen Reisenden in seiner gedanklichen Einsiedelei auch die Wirklichkeit ein. So im Dezember 1988, als er in London jenes Flugzeug verlaesst, das bei seinem Weiterflug ueber Lockerbie explodierte: =Gestern abend die Ankunft in England wie in einem Wunschland. (...) und jetzt an den Fruehstueckstischen sitzen gedaempft wir ueberlebenden.=
Irritierend wirken im Nachhinein Handkes Beobachtungen im Jugoslawien vor den blutigen Buergerkriegen am Balkan: =Die Mauern von Dubrovnik: welch schoene Abschreckung im Vergleich zu den heutigen Abschreckungen=, oder, ohne Ortsangabe: =Schoene Tage, es gibt sie, sie sind nicht nur eine Redensart. Die Schoenheit von Himmel und Erde greift dann ein in das innerste Herz.=
Was wenige Jahre spaeter in seinen Stellungnahmen zum Krieg in Ex-Jugoslawien als bornierte Romantisierung erscheint, begegnet dem Leser hier als eine rein poetische Erkundung eines Reichs, das dem bedaechtigen, schweigsamen, in sich gekehrten Dichter voller Mythen und Raetsel scheint. Der Kontrast zu seinem lauten, wuetenden Appell =Gerechtigkeit fuer Serbien=koennte nicht groesser sein. Gerade in diesen Passagen zeigen Handkes Notizen auch das scharfe Aufeinanderprallen von dichterischem Selbst- und Weltverstaendnis und dem sich politisch aeussernden Schriftsteller.
Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990. Jung und Jung Verlag Salzburg/Wien, 360 Seiten, 25 Euro, ISBN 3-902144-99-8

 


 

Here comes Georg Pichler's wonderful piece on Goethe and Handke.

=Der Goethesche Nachvollzug des Schriftstellers auf Erden= – Handke und Goethe

Georg Pichler (Universidad de Alcala)

=Sehnsucht nach den =Wahlverwandtschaften== schrieb Peter Handke im Marz 1976 in sein Journal Das Gewicht der Welt (GW:76), als er sich wegen Herzrhythmusstoerungen langere Zeit =in der Intensivstation eines Pariser Hospitals= (Pichler:127) aufhalten musste. In dieser Zeit, in der er, wie er schrieb, des oefteren =in Todesangst im Bett= (GW:65) lag, sehnte er sich jedoch weniger nach dem Beziehungsgeflecht des Goetheschen Romans als vielmehr nach seiner Sprache und Schreibweise, seiner asthetik: =Ich brauche etwas, das ich Wort fur Wort lesen koennte – und nicht diese Satze, die man auf den ersten Blick erkennt und uberspringt, wie in Zeitungen fast immer und leider auch fast immer in Buchern!= Weniger der Inhalt ist von Bedeutung als die Transformation von Welt in Sprache, ein Thema, in dessen Zeichen ein Grossteil von Handkes Schreiben steht. Im Lauf der kommenden Jahre sollte die Auseinandersetzung mit Goethe bestimmend fur Handkes Werk werden: Goethe, =mein Held= (GD:12), wird fur ihn ein asthetisches Projekt, ein Vor-Bild, dem man nach-schreiben kann, in dessen Werk man das eigene Schaffen spiegeln und zu dem man sich hin und wieder =fluchten= (GW:100) kann; Goethes Texte werden aber auch zum intellektuellen, literarischen, philosophischen und politischen Referenzpunkt, durch den die eigene Position, das eigene Zeitalter bestimmt werden. Handkes Schreiben ist fur ihn selbst bis hin zu seinen neuesten Werken vorrangig =der Goethesche Nachvollzug des Schriftstellers auf Erden= (Steinfeld 2002). Diese Auseinandersetzung findet nicht nur in zahlreichen Prosatexten mehr oder weniger deutlich statt, sie ist auch in den bisher vier Journalen nachzulesen, in denen Handke seine tagtaglich festgehaltenen Notizen versammelt. Dort kann dies direkt und explizit geschehen: =Naturlich: nicht sich messen an oder mit Goethe. Aber an ihm doch das eigene Mass finden= (FM:523); oder anspielungsreich indirekt: =Er betete zum Augenblick, weil er ihn fuhlen wollte: =Bleib, Augenblick, auch wenn du nicht schoen bist!== (GB:124) Zwischen diesen beiden Polen, namlich der expliziten Wiederaufnahme Goethescher Texte und einem versteckten Einarbeiten von Themen, Figuren oder sprachlichen Einsprengseln aus Goethes Werken, bewegt sich Handkes Goethe-Rezeption generell.

Peter Handke hat sich seit den fruhen siebziger Jahren intensiv mit Goethe beschaftigt, wohl so ausfuhrlich wie mit keinem anderen Schriftsteller sonst. So etwa findet Goethe in Handkes 1982 erschienenem Journal Die Geschichte des Bleistifts an die funfzig Mal Erwahnung und ist unter den rund sechzig dort zitierten Schriftstellern mit Abstand der meistgenannte. Und auch in dem langen Gesprach, das Herbert Gamper Ende der achtziger Jahre mit Handke fuhrte und unter dem Titel Aber ich lebe nur von den Zwischenraumen herausgab, ist von Goethe viel oefter die Rede als von anderen Autoren, Kunstlern und Philosophen, deren beachtliche Spanne immerhin von Aischylos bis Wittgenstein reicht. Umso auffalliger ist, dass sich die Literaturwissenschaft bisher kaum dieses Themenkomplexes angenommen hat. Im Gegensatz etwa zu den recht haufigen Vergleichen mit Autoren wie Stifter, Nietzsche, Benjamin, Heidegger oder Celan wurde Handkes Beschaftigung mit Goethe lange kaum explizit behandelt, sondern bestenfalls als ein eher kleines Kapitel in allgemeinen Darstellungen zu Leben und Werk erwahnt (vgl. Mixner, Putz 1982, Renner; die einzige Ausnahme hierbei ist Putz 1984). Erst in letzter Zeit hat das Thema einige Aufmerksamkeit gefunden und zum Teil sehr interessante Erkenntnisse gebracht (vgl. Bosse, Vogel, Wolf).

Handkes intensivste Beschaftigung mit Goethe fallt in die Jahre seiner fur ihn traumatischen Schreibkrise rund um die Erzahlung Langsame Heimkehr, die zugleich eine radikale Zasur in seinem Werk darstellt. Versuchte Handke in seiner Fruhzeit, die sprachlichen, gattungsspezifischen und sozialen Formen der Literatur und des Literaturbetriebs unter anderem im Gefolge der Sprachskeptiker zu demontieren oder – beinahe noch avant la lettre – zu =dekonstruieren=, so vollzog er ab etwa 1972 =eine Wende zur Sondierung des Authentischen in und durch Sprache auf der Basis des =neuen Sehens== (Bosse:381) und eines ausserlichen Schreibens, bei dem ein von Handke etwas abgewandeltes Goethezitat Pate stand:

=Innerlichkeit – ausserlichkeit=: Gestern las ich den Satz (von Goethe): =Auf ihrem hoechsten Gipfel wird die Poesie ganz ausserlich sein= – und der war wie eine freundschaftliche Erleuchtung einer Schreibhaltung, die auch mir fur das, was ich schreibe, als die Herrlichkeit auf Erden vorschwebt: Um diese allumfassende ausserlichkeit zu erreichen, muss der jeweilige Schriftsteller oder Poet aber ohne Maskierungsrest innerlich geworden sein; das heisst, er muss die kunstliche, politisch oder religioes organisierte Solidaritat aufgeben und sich selber ohne Erbarmen erforschen – als ob er noch nichts uber sich selbst wusste und auch niemand anderer ihm sagen koennte, wer er sei. (TS:25)

In diesem Prozess wandelte Handke sich zu einem Sucher nach einem harmonischen Bezug zwischen dem Ich und der Welt, der von seinen Kritikern immer wieder ironisch als den Grenzen des Kitsches allzu nahe kommender Verkunder des Heils oder als =Narziss auf Abwegen= (Durzak) tituliert wurde. Als erster Referenzgroesse fur dieses neue weltumfassende Schreibprogramm nahm Handke bei Goethe Mass.

Dies ist nicht nur aus asthetischen, sondern auch aus biographischen Grunden stimmig, denn der schriftstellerischen Werdegang beider Autoren weist signifikante Parallelen auf: Sowohl Goethe als auch Handke begannen ihren Eintritt in das =literarische Feld= relativ jung mit sehr publikumswirksamen Skandalen, die gegen die, eben dieses Feld beherrschende Literatur und Schreibweise ihrer Zeit gerichtet waren, um sich dann, beide in ihren Dreissigern, in einem zweiten Schritt zu Protagonisten ins =Feld der Macht= (Bourdieu:341 f.) hinein- oder, literarhistorisch gesehen, zu Klassikern ihrer Epoche emporzuschreiben (vgl. dazu auch Wolf). Bezeichnend ist auch, dass sich Handke in der Zeit seiner Beschaftigung mit dem Weimarer Klassiker den klassischen griechischen und roemischen Autoren zuwandte, die er in der Folge ebenso ausfuhrlich rezipierte wie Goethe.

=Theoretisch hat sich Handke [...] kaum zusammenhangend uber Goethe und seine Beziehung zu dessen Werk geaussert= (Putz 1984:314). Seine Rezeption scheint auf den ersten Blick eher unsystematisch. Die Notizen in den Journalen belegen eine ausfuhrliche Lekture vor allem der Wahlverwandtschaften, einiger Theaterstucke, der Maximen und Reflexionen, der Italienischen Reise, des West-oestlichen Divans und der naturwissenschaftlichen Abhandlungen. In Interviews und theoretischen Texten lasst Handke hin und wieder Zitate Goethes einfliessen, doch auch sie erinnern eher an Bruchstucke, die Handke dem an Material in Form von Zitaten und Anspielungen unerschoepflichen Steinbruch Goethe entnimmt.

Eine erste, freilich noch sehr indirekte Konfrontation mit Goethe uber das Genre des Bildungs- und Entwicklungsromans ist der 1972 erschienene Kurze Brief zum langen Abschied. Diese Beschreibung einer Reise durch die USA rekurriert ausdrucklich auf zwei Romane, die in engem Bezug zu Goethe stehen: Anton Reiser von Karl Philipp Moritz und Gottfried Kellers Der grune Heinrich. Wird hier das Paradigma des Bildungsromans, der Wilhelm Meister, nicht genannt und ist bestenfalls in seiner Abwesenheit prasent, bildet er in der drei Jahre spater erschienenen Filmerzahlung Falsche Bewegung den Ausgangstext, den Handke ausserst reduziert ins 20. Jahrhundert transponiert. Goethe wird ausser in Anspielungen wiederum nicht woertlich zitiert, sein Roman ist aber als Referenz stets prasent, doch auch hier eher ex negativo denn direkt ausgesprochen.

Namentlich zitiert wird Goethe in der 1976 erschienenen Erzahlung Die linkshandige Frau, der als Epilog eine Passage aus den Wahlverwandtschaften nachgestellt ist, die unmissverstandlich auf die Korrespondenzen zwischen den Texten verweist: In beiden geht es um Beziehungen zwischen Mann und Frau, um Abhangigkeiten, um Zusammenleben und Trennung. Die linkshandige Frau, die kurz vor Handkes oben erwahntem Krankenhausaufenthalt entstanden war, bildet denn auch eine Schwelle in Handkes Beziehung zu Goethe. Bis dahin hatte Handke sich Goethe in Form der Negation genahert, hatte dessen Texte als strukturelle Vorlage verwendet, um auf ihr ein Gegenbild aus einer modernen Weltsicht heraus zu entwerfen. Nun sollte Goethe der absolut positiv besetzte Schreib-Ahne werden, dessen poetologische Positionen Handke als Ausgangspunkt dienen, um daruber hinaus zu gelangen, und auf den in zahlreichen Werken auf verschiedenste Weise angespielt wird.

Wenn etwa der Protagonist der Langsamen Heimkehr Geologe ist, so fuhrt dies unmittelbar auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften zuruck. Nicht nur in dieser Erzahlung, auch im spateren Werk Handkes wird immer wieder ausfuhrlich auf geologische Phanomene eingegangen, besonders auf den Granit, diese fur Goethe =merkwurdige Steinart= (Goethe 13:253). Goethes Beschaftigung mit der Geologie beruhte auf seinem =Interesse an naturlichen Gegenstanden oder auch sonst sichtbaren= (Goethe 13:273) und war darin begrundet, dass sich ihm durch sie gleichsam eine Gegenwelt auftat, uber die er als Kunstler nicht verfugen konnte, die er aber gerade als solche akzeptierte und fur sein Schaffen willkommen hiess: =Zur Darstellung meines geologischen Ganges werde veranlasst, dass ich erlebe, wie eine der meinigen ganz entgegengesetzte Denkweise hervortritt, der ich mich nicht fugen kann, keineswegs sie jedoch zu bestreiten gedenke.= (ebda) Eine ahnliche Bipolaritat zwischen der naturlichen Welt und der Welt des Ich als Kunstler ist in allen Werken Handkes prasent, in ihrer Hinwendung auf die aussere Welt beruhen sie gerade auf dem Versuch, sich das Naturliche, das ausserliche einzuverleiben. Zugleich aber wird hier auch einer der epochalen Unterschiede zwischen den beiden deutlich, namlich das Problem des referenziellen Schreibens. Wahrend Goethes Beschaftigung mit geologischen Phanomenen sich direkt mit diesen abgibt und er in naturwissenschaftlichen Abhandlung uber diese schreibt, beinhaltet Handkes Eingehen auf naturliche Phanomene stets eine Vermittlungsinstanz, einen Referenztext, der unter anderem Schlussel zu dem jeweiligen Werk ist, wie Uwe C. Steiner treffend festgestellt hat:

Dass Goethe Erdgeschichte, Handke dagegen Textgeschichte erinnert, ist selber nur das Resultat einer tieferliegenden Verschiebung, die sich bei Goethe zwar schon grundsatzlich ankundigt, aber noch nicht wie bei Handke zur Selbstdurchsichtigkeit gelangt ist. Es handelt sich exakt um jene Verschiebung, in deren Verlauf [...] das Sein der Konstruktion weichen muss. Fremdreferenz ist nur als bzw. uber Selbstreferenz zu haben, so konnte man implizit schon bei Goethe und so kann man explizit nun bei Handke sehen. Selbstreferenz und Fremdreferenz sind die zwei Seiten einer Form, in der die Seite der Selbstreferenz die starkere ist, weil sie die Fremdreferenz enthalt. (Steiner:273)

Um eben dieses Problem geht es auch fur Handke, wenn er seine eigene Schreibposition derjenigen Goethes gegenuberstellt und meint, dass Goethe am Anfang der Moderne einen literarischen Schreibraum zur Verfugung hatte, der ab diesem Zeitpunkt immer mehr an Naturlichkeit verlor und in immer neuem Bezug auf im kulturellen Gedachtnis prasente Texte erst neu geschaffen werden muss: =Goethe stand der Raum, in den er hineinschreiben konnte, im grossen und ganzen frei da; einer wie ich muss diesen Raum erst schreibend schaffen (wiederholen), daher ist das, was ich tue, vielleicht lacherlich? Nein (PW:75)=. Goethe befinde sich, so Handke, am Anfang einer Entwicklung, in deren Verlauf die Literatur zu einem System impliziter intertextueller Referenzen geworden sei, die der zeitgenoessische Autor wiederholend schaffen musse. Insofern ist Handkes Satz die wohl kurzest moegliche Definition der Unterschiede im Literaturverstandnis zwischen den beiden, aber auch Handkes eigener Schreibposition zu jener Zeit. Aufgrund dieser Ahnherrnschaft ist es auch nur konsequent, dass Handke als Ausgangspunkt fur sein poetologisch wohl aufschlussreichstes und explizitestes Werk, Die Lehre der Sainte-Victoire, – gleich nach Stifter – den =ein bisschen mit seinem Wissen prunkende[n] Goethe= (LSV:10) nahm. Bezeichnenderweise eine Stelle aus der Farbenlehre, denn der Text legt anhand der Bilder Paul Cézannes Handkes Verstandnis von Kunst dar und exemplifiziert es gleichzeitig. Aber er weist auch schon uber Goethe hinaus, dessen Prasenz in den kommenden Werken Handkes deutlich geringer wird. Erst rund zehn Jahre spater taucht er wieder auf: Handkes Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht ist, wie Juliane Vogel uberzeugend nachgewiesen hat, eine breit angelegte Umschreibung von Wilhelm Meisters Wanderjahre, wenngleich die Bezuge zwischen Vor- und Nachbild weitaus versteckter sind als in der Falschen Bewegung und Handke hier einen neuen Autor einfuhrt, der zum Paten von Handkes bisher letzten und groessten Roman Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos wird: Miguel de Cervantes.

Wenn ich nun im Folgenden ausfuhrlicher auf die von Wim Wenders verfilmte Erzahlung Falsche Bewegung eingehe, so hat dies mehrere Grunde: In ihr sind in nuce viele poetologische Charakteristiken des jungen, aber auch schon des spateren Handke vorhanden; es ist seine wohl ausfuhrlichste Umsetzung eines Goethes Werks, und der Text wurde bislang von der Literaturwissenschaft mit nur wenigen Ausnahmen (Wolf) als eher zweitrangig abgetan und kaum beachtet.

Auf den ersten Blick hat das 1973 geschriebene und zwei Jahre spater veroeffentlichte Filmskript wenig mit den Lehrjahren gemein. Vorgefuhrt wird eine vom Zufall bestimmte Reise eines familiennamenlosen Wilhelm von seinem Geburtsort Heide in Schleswig Holstein in den Suden Deutschlands, in die freiwillig aufgesuchte Einsamkeit auf der von einem Schneesturm umtosten Zugspitze. Stationen auf diesem Weg sind der Hauptbahnhof von Hamburg, die Ortschaft Soest in Westfalen, ein Landhaus in deren Umgebung sowie Frankfurter Vororte, geographisch genau bezeichnete und realistisch wiedergegebene Orte. In Goethes Wilhelm Meister herrscht eine paradigmatische Losgeloestheit von Raum und Zeit, in ihm scheint es keine Jahreszeiten und damit verbundenen Klimaanderungen zu geben, der Ablauf der Monate und Jahre ist nur sehr schwer nachzuvollziehen, und die konkreten Orte, Doerfer und Stadte, die der Held auf seinem Bildungsweg durchlauft, bleiben allesamt namenlos, werden geographisch nicht einmal ungefahr situiert. Auch wenn man aus historischen Grunden darauf schliessen kann, dass mit der =grossen Handelsstadt= (Goethe 7:266), in der Serlos Truppe im vierten Buch ihren Sitz hat, Hamburg gemeint ist, lasst Goethe doch alle eindeutigen Ortsangaben im Dunkeln, unter andern wohl, um so dem Text, der im zentrumslosen Deutschland des 18. Jahrhunderts spielt, seine Anspruche an eine fur das ganze Land verbindliche Allgemeingultigkeit zu bewahren. Zudem handelt es sich weniger um einen Roman des Aussenraums denn um einen der zwischenmenschlichen Beziehungen und der inneren Entwicklung des Protagonisten, so dass generell auf die landschaftliche Dekoration oder auf die Natur wenig Wert gelegt wird, was der Roman auch thematisiert. Als Philine sich uber die Naturschwarmerei eines jungen Mannes lustig macht, stimmt ihr Wilhelm Meister etwas verlegen bei, dass =der Mensch [...] dem Menschen das Interessanteste= sei und =ihn vielleicht ganz allein interessieren= (Goethe 7:101) sollte. Dieses Fehlen von Naturbeschreibungen in den Lehrjahren steht denn auch im Gegensatz zu den Wanderjahren und liess bereits Novalis konstatieren, dass =die geognostische oder =Landschaftsphantasie= [...] im =Meister= gar nicht beruhrt [wird]. Die Natur lasst Goethe nur selten mitwirken [...]. Die Aussenwelt [beruhrt er] uberhaupt selten= (Goethe 7:681).

Handke stellt dagegen seinen Wilhelm in die konkret benannte und – wohl auch in Hinblick auf die Verfilmung – plastisch geschilderte aussere Wirklichkeit des Deutschland der siebziger Jahre: Zugnamen wie =der Transeuropaexpress Hamburg-Mailand= (FB:19) tauchen auf, eine Unzahl von Schildern, die auf Stadte, Lokale oder Geschafte verweisen, spielen mit der Doppeldeutigkeit von Zeichen und Bezeichnetem, Flugzeuggerausche von Nato-Bombern sind zu hoeren, aus dem stehenden Zug ist das wenig erbauliche =Zementwerk von Itzehoe= (FB:17) zu sehen, im Hochhaus der Handkeschen Therese sind =Genitalsymbole in die Liftwand geritzt= (FB:64), und Wilhelm halt in seinem Notizbuch das triste, aber das Ambiente des Textes bestimmende Panorama der =Schlafstadt Schwalbach [bei Frankfurt] am fruhen Morgen= (FB:66) fest, das mit seinem stummen Voruberziehen von Bewohnern an das rund zwanzig Jahre spater entstandene Stuck Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten erinnert. Bereits in dieser fur sein damaliges Schreiben bezeichnenden eindeutigen Situierung im Hier und Jetzt grenzt sich Handke klar von Goethe ab.

Goethes Roman steht nicht nur am Anfang des burgerlichen Bewusstwerdungsprozesses, er beschreibt auch ausfuhrlich die Grundsatze der burgerlichen Haushaltsideologie als Gegensatz zur Reprasentationskunst des Adels. Eben dieses oekonomische Denken war den Romantikern sehr zuwider und liess Novalis den Wilhelm Meister als =fatales und albernes Buch – so pratentioes und prezioes – undichterisch im hoechste Grade, was den Geist betrifft= (Goethe 7:685), charakterisieren. Vor allem der Schluss wird ihm zur =Farce. Die oekonomische Natur ist die wahre – ubrig bleibende= (ebda). Goethe beschreibt in eben dieser Abwendung Wilhelm Meisters von der Kunst hin zur gesellschaftlichen Tatigkeit den Beginn der Beschleunigung des sozialen Lebens, die im 19. Jahrhundert den Kapitalismus hervorbrachte und durch deren Spatfolgen die Handkeschen Figuren in der Falschen Bewegung wandeln: die Zeugnisse der fast ausschliesslich nur mehr wirtschaftlichen Ausrichtung des gesellschaftlichen Lebens, der Zerstoerung der Natur durch die Industrialisierung, der auch der =kunstlerische Mensch= nicht entgehen kann. Als Wilhelm bei einem seiner ersten Versuche, die Realitat literarisch einzufangen, das vor ihm liegende Meer beschreiben will, indem er in seiner Ohnmacht, die Natur in Sprache zu fassen, einfach ==Das Meer. Das Meer. Das Meer, das Meer, das Meer.== (FB:9) in seinem Notizbuch festhalt, stoesst er in seiner Suche nach Beschreibbaren sehr bald auf Zeichen der Vermischung von Industrie und Natur: =Teerspritzer, Plastikbecher, Moeweneierschalen...= (ebda). Ein Thema, das Handke bis in seine jungsten Werke auf immer neue Weise gestaltet.

In der literarischen Beschreibung der Landschaft, die in eben dieser Durchmischung von naturlicher und kunstlicher Umwelt fur ihn nie unproblematisch ist und stets vermittelt geschieht, ist Handke – gezwungenermassen – eher ein Nachfahre der Romantik und weniger der Goethes, wie er selbst weiss: =An Goethes Naturbeschreibungen ist zu merken, wie frisch die Landschaft damals noch war; so dass die einfachsten Woerter genugten, das blosse Benennen und =Ansagen=. Es brauchte keine Beschwoerung sein, wie dann schon bei Hoelderlin= (GB:253). Dieses Changieren zwischen klassischen und romantischen Positionen in Bezug zur Gegenwart wird spielerisch deutlich, wenn Handke Wilhelms Zugreise durch das moderne Deutschland den Anfang von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts unterlegt (FB:18).

Auch in einer anderen Beziehung ist Handke romantischen Positionen naher als Goethes klassischen Idealen. Handkes Text thematisiert nicht den Eintritt eines jungen Menschen ins gesellschaftliche Leben, sondern seinen Austritt aus ihm, seinen Ruckzug in die unwegsamste Natur Deutschlands, die Zugspitze, um sich dem Schreiben zu widmen: der Texte endet eben dort mit dem Bild einer weissen =Schneewachte gegen den grauen Himmel=, =Sturmgerausch= und einem =Schreibmaschinengerausch dazwischen, das immer starker wird= (FB:81). Die Hinfuhrung zum Gesellschaftlichen, zum =Politischen= uber die als fur die Ausbildung des Geistes ungemein wichtige Kunst, dessen Beschreibung ja die grosse, vorausblickende Leistung der Lehr- und Wanderjahre war, wird verweigert und umgeleitet zu einer Hinfuhrung zum asthetischen, die sich jeder gesellschaftlichen und politischen Vereinnahmung verweigert (vgl. dazu auch Wolf). Handkes Text entspricht im Handlungsverlauf den ersten funf Buchern der Lehrjahre oder dem Urtext der Theatralischen Sendung, denn er bricht gerade in dem Moment ab, da Wilhelm versucht, sich ganz und allein dem Schreiben zu widmen. Zudem verlegt Handke den an sich schon einsamen Akt des Schreibens in die groesstmoegliche Einsamkeit, in genauem Gegensatz zu der von Friedrich Schlegel konstatierten inneren Notwendigkeit in Goethes Wilhelm Meister, diesen Schauspieler werden zu lassen:

Bei dieser Absicht musste die Schauspielerwelt die Umgebung und der Grund des Ganzen werden, weil eben diese Kunst nicht bloss die vielseitigste, sondern auch die geselligste aller Kunste ist, und weil sich hier vorzuglich Poesie und Leben, Zeitalter und Welt beruhren, wahrend die einsame Werkstatte des bildenden Kunstlers weniger Stoff darbietet, und die Dichter nur in ihrem Innern als Dichter leben, und keinen abgesonderten Kunstlerstand mehr bilden. (Schlegel:132).

Fur Handkes Wilhelm ist die Kunst nichts =Geselliges=, nichts Soziales, sondern Ausdruck eines Wollens, die Welt zu sehen, deren Ursprung – auch hierin eher in Einklang mit den Romantikern als mit dem Goethe der Lehrjahre – ein Wunsch nach Einzigartigkeit ist. Der Grund fur Wilhelms anfangliches =Unbehaglichkeitsgefuhl= und seinen =Missmut= (FB:10) ist ein Zeitungsfoto, auf dem er sich selbst als zufalliger Passant erkannt hat: =Es wurde mir klar, dass ich bis jetzt all die Jahre wirklich nichts anderes war als dieser beliebige Passant auf dem Foto. [...] Ich komme mir schon manchmal nur noch wie ein Posten in einer Statistik vor.= (FB:11) Und der Weg zur Einzigartigkeit des Protagonisten fuhrt nun nicht in die Welt, um dort als Wundarzt tatig zu sein, sondern in das =Innere= des Dichters, um von dort aus mit der Welt in einen diffizilen Dialog zu treten. Dies geschieht fur Wilhelm aus einer inneren Notwendigkeit heraus, denn fur ihn ist der Akt des Schreibens nicht mit anderen Handlungen vergleichbar, sondern bestimmt das Leben des Schriftstellers. =Ja: nicht S c h r e i b e n ist das Bedurfnis, sondern schreiben w o l l e n.= (FB:46) Es handelt sich bei ihm also um die grundsatzliche Entscheidung, das Leben als Schreibender zu leben, das all seine Handlungen und seine Sichtweise der Welt betrifft. uber den =erotischen Blick= bekomme er ein Gefuhl fur die Dinge, die so ein =inniger Teil= von ihm selber wurden: =Etwas Einzelnes wird zum Zeichen fur das Ganze.= (FB:58) Und diese Sichtweise geht gezwungenermassen uber das Innere des Schreibenden, der sich die aussere Welt einverleibt, um sie dann umgestaltet wiederzugeben. Wichtig sei nicht das, was er sehe, sondern das, was als =Nachbild= (FB:62) vom Gesehenen ubrig bleibe: =Auch wahrend ich schreibe, schliesse ich die Augen und sehe einiges ganz deutlich, das ich bei offenen Augen gar nicht wahrnehmen wollte.= (ebda) Das Medium des Schreibens ist somit die Erinnerung =als eine Form der poetischen Phantasie, welche die Aussenbilder und die Innenbilder aneinander vermittelt= (Renner:116). Das Schreiben muss aus der Erinnerung vor sich gehen, aus der im doppelten Sinn zu verstehenden geistigen Wiederholung der Welt, wobei das Zufallige der Welt nur dann Kontingenz und innere Logik erhalt, wenn es durch eben diesen Prozess der Erinnerung gestaltet wird: =Ich moechte nichts Bestimmtes sehen, bevor ich etwas schreiben will. Ich moechte mich nur erinnern. Alles, was ich nur zufallig sehe, stoert mich beim Erinnern, und zum Schreiben muss ich ungestoert und genau erinnern koennen, sonst schreibe ich nur was Zufalliges.= (FB:30)

Zufalligkeit ist auch ein Merkmal beider Texte. Wilhelm Meister lasst sich den ganzen Roman uber von seinem Geschick treiben, erst a posteriori scheinen all die von Goethe recht grosszugig gebrauchten Zufalle und Fugungen so etwas wie einen Sinn in seinem bisherigen Leben zu ergeben. Die Zwangslaufigkeit seines Weges hin zu seiner gegluckten Bildung ist literarische Konstruktion, und im Verlauf der Handlung kristalisieren sich die kompositorischen Kunstgriffe heraus, die Wilhelms Werdegang als zweckbestimmt und in gewisser Weise von der Turmgesellschaft geleitet darstellen. Handke dagegen verweigert in der Falschen Bewegung jede nachtragliche Zweckbestimmung seines Protagonisten. Der Text ist von Anfang an Zufalligkeiten ausgesetzt, durch die sein Protagonist getrieben wird. Bereits das erste Ziel der Reise ist beliebig, denn mit der von seiner Mutter zur Verfugung gestellten Zugskarte koenne Wilhelm bis Giessen, Bad Hersfeld oder nach Soest reisen. Wilhelm fahrt kurzentschlossen nach Soest, da er dort =frisches Brot= (FB:15) rieche, eine Idylle, die sich als falsch – eben als falsche Bewegung – herausstellt, denn tatsachlich =riecht es nach Benzin= (FB:29). Zufalle sind auch die Bekanntschaft des Alten und Mignons, die im selben Zugsabteil sitzen; Zufall ist das erste Treffen mit Therese, die er aus dem Abteilfenster sieht, als ihr verspatet abfahrender Zug zugleich mit dem seinen losfahrt; das Landhaus des Onkels des ebenfalls durch Zufall zu ihnen gestossenen Dichters Bernhard, gehoert jemand anderem, der sich in eben dem Moment da die Gruppe dort ankommt, zufallig erschiessen wollte; und Zufall ist auch, dass sich Wilhelm in der ersten Nacht im Zimmer irrt und statt mit Therese mit der vierzehnjahrigen Mignon schlaft. Anders als Goethe loest Handke diese Zufalligkeiten nicht im Nachhinein auf, sondern lasst sie als solche stehen, im Einklang mit der zerrissen wirkenden Gestaltungsform der Filmerzahlung, die die einzelnen Etappen des Plots als voneinander getrennte Einstellungen wiedergibt, statt sie geschlossen und verknupft darzustellen. In dieser losen, akausalen Aneinanderreihung von Augenblicken beruft sich Handke erneut auf Goethe: ==Sie war glucklich in Eduards Nahe und fuhlte, dass sie ihn jetzt entfernen musste= (= Und fuhlte=! Kein =so dass= oder =deswegen=!)= (GW:109), zitiert Handke in seinem Journal aus den Wahlverwandtschaften und weist mit dem Nachsatz ausdrucklich auf dieses rein aufzahlende und hin, durch das jede Kausalitat aufgehoben wird. Erst gegen Ende kommt es in all der scheinbaren Beliebigkeit der Erzahlung zu einer einzigen Notwendigkeit. Als Wilhelm sich von Therese verabschiedet, fragt ihn diese, ob sie sich noch einmal sehen werden: =Das ist notwendig= (FB:80), antwortet er und sieht ihr nach, wie sie in einem ironischen Antiklimax mit Mignon im Eingang des Hertie-Kaufhauses im =Main-Taunus-Einkaufszentrum bei Frankfurt Hoechst= (FB:79) verschwindet. Eine Notwendigkeit, die am Schluss manifest wird, als es Wilhelm zu gelingen scheint, gegen die Zufalligkeiten seiner Welt anzuschreiben. In dieser Notwendigkeit sind Schreiben und Lieben vereint, wie Wilhelm bereits zuvor durchblicken hatte lassen (vgl. FB:46). In dieser Richtung ist wohl auch eine zwei Satze lange Geschichte zu deuten, die Handke Wilhelm zuschreibt: =Endlich war er fahig, ihr zu sagen, dass er sie liebe. Im Moment, als er sagte ICH LIEBE DICH, griff sie zufallig nach dem Zahnstocher, und von da an hasste er sie sein Leben lang.= (FB:56). Neben dem banalen Griff nach dem Zahnstocher ist es hier wohl auch die Zufalligkeit, mit der sie diese Geste ausfuhrt, die in absolutem Kontrast zum lang vorbereiteten, hochkonzentrierten Moment der Liebeserklarung steht und die den lebenslangen Hass des mannlichen Parts ausloest.

Grundlegende Elemente des Goetheschen Romans hat Handke nur wenige ubernommen, die er in seinem Text nach Belieben zitiert, abwandelt und adaptiert, meist mit einem Anklang von Ironie. Das Grundmotiv der Reise, Themen wie das Theater, Traume, Liebe und Wahnsinn, Selbstmord, Italien, ja sogar ein Mann mit Pudel werden von Handke in den Text eingeflochten, doch sind sie zumeist Anspielungen, die zeigen, dass sich Handke bei Goethe das Material geholt hat, es aber auf seine Weise umarbeitet. Auch die Figuren sind nicht treu nachgestaltet. Der aus gutem Hause stammende Kaufmannssohn Wilhelm Meister ist – in Analogie zur Theatralischen Sendung, in der Wilhelm aus armlichen Verhaltnissen kommt – zum Sohn einer offensichtlich alleinstehenden Geschaftsfrau geworden, die ihm, =Besen und Kehrrichtschaufel in der Hand= (FB:9), mitteilt, dass sie ihr Lebensmittelgeschaft dem Supermarkt verkaufen wolle. Therese ist eine bekannte Fernsehschauspielerin, die sich alle Frauenrollen aus Goethes Roman mit der bei Handke stummen Mignon teilt, die hin und wieder =wie Cary Grant= (FB:49) gestikuliert; am wenigsten hat Therese jedoch mit ihrer originalen Namenskollegin gemein. Der Onkel der von Handke neu eingefuhrten Figur Bernhard, bei dem die Truppe nachtigt, ist kein Graf mehr wie bei Goethe, sondern Besitzer einer Brotfabrik. Im Alten, der Mignon begleitet, ist unschwer der Harfner zu erkennen, auch er ironisch gebrochen, wenn ihn Handke etwa einmal das bedeutungsschwangere Lied =Wer nie sein Brot mit Tranen ass...= (FB:24), ein anderes Mal bei einer Bootsfahrt den Blues =Muddy Water= (FB:73) singen lasst. Seine Schuld ist nun nicht mehr die inzestuoese Verstrickung mit Mignon, sondern seine Vergangenheit als NS-Offizier. Ebenso wie in den Lehrjahren der dustere, geheimnisumwitterte Harfner in gewisser Weise eine Gegengestalt zu dem fur den Leser transparenten Wilhelm Meister ist, steht der Alte bei Handke in Opposition zum Protagonisten. Wilhelm, der =nichts von fruher wissen will= und =kein Gefuhl fur die Vergangenheit= (FB:28) hat, entscheidet sich nach anfanglichen unfruchtbaren Versuchen, das Politische und sein Schreiben in Einklang zu bringen, fur die Autonomie der Kunst und gegen die Politik, weniger aus ideologischen denn aus asthetischen Grunden: =Eigentlich ist mir das Politische erst mit dem Schreiben unfassbar geworden. Ich wollte politisch schreiben und merkte dabei, dass mir die Worte dafur fehlten.= (FB:51) Der Alte hingegen verwendet eine von Handke etwas perfid gezeichnete politische Argumentationsweise, die eine Mischung aus nationalsozialistischem Gedankengut und dem Jargon der 68er-Generation ist. Es geht ihm dabei jedoch weniger um eine ideologische Gleichsetzung, als um die unuberbruckbare Gegenuberstellung einer politischen Weltsicht und der von Wilhelm vertretenen kunstlerischen. Wobei sich gerade hier die verschiedenen Facetten des Goetheschen Romans treffen und nicht aufloesen, sondern nebeneinander stehen bleiben und von Handke weitergefuhrt werden: die asthetische Dimension der Klassik, auf die sich Handke bezieht und die er adaptiert; und die gesellschaftsanalytische Komponente des Romans, die Handke in den Auswuchsen des Spatkapitalismus zeigt, aber auch in der Perversion des aufklarerischen Gedankenguts, das im Wilhelm Meister zu einem Hoehepunkt gelangt war, der Ideologie des Dritten Reiches. Selbst wenn Wilhelm sich gegen die Politik und fur das damit unvereinbare Schreiben entscheidet, so impliziert der Text dennoch eine politische Komponente, die trotz aller Ablehnung des explizit Politischen bei Handke (fast) immer prasent ist.

ubernimmt Handke also sehr viele der asthetischen Positionen Goethes und denkt sie von seiner Warte aus weiter, ist die Falsche Bewegung zugleich eine Absage an die sozialen Dispositionen, die Goethe im Wilhelm Meister vorfuhrt. Die konstanten falschen Bewegungen des Protagonisten fuhren ihn ins Abseits, das Modell des Bildungs- und Entwicklungsromans wird dadurch unterlaufen und als im 20. Jahrhundert nicht mehr nachvollziehbar dargestellt. Jean Améry hat der Beschreibung seines eigenen, durch den Nationalsozialismus, das Exil und die Jahre im KZ brutal unterbrochenen Bildungsweges den Titel Unmeisterliche Wanderjahre gegeben, und sie auf das das lakonische Fazit hinauslaufen lassen: =Es gibt Meisterschaft und Meister nicht mehr.= (Améry:734). Amérys Absage an die Moeglichkeit eines selbstbestimmten Entwicklungsweges trieb ihn in den realen Selbstmord. Handke hingegen lasst seinen fiktiven Helden den Weg in die Autonomie der asthetik nehmen.

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Wolf, Norbert Christian, 2002. =Der =Meister des sachlichen Sagens= und sein Schuler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzahlung Falsche Bewegung.= Unveroeffentlichstes Vortragsmanuskript, Klagenfurter Handke-Symposium, November 2002.

 

 

 

Belletristik

Peter Handke: Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte. Suhrkamp Verlag,Frankfurt am Main 1999. 90 S., mit 11 Skizzen des Autors, 28 Mark.
Waldweben
Kurios einleuchtend: Peter Handkes Kunstmaerchen Lucie im Wald mit den Dingsda
von Gustav Seibt

Lucie, die kindliche Heldin in Peter Handkes neuer Geschichte, bewundert ihre Mutter, eine Polizistin, fuer allerlei - unter anderem deshalb, weil diese beim Tuerenschliessen, im Haus oder sonstwo, nie, nicht im leisesten, je eine Klinke drueckte. Von der Eichendorffschen Sehnsucht hat man gesagt, das Posthorn, das in diesem Gedicht durchs stille Land erklingt, unterbreche die Stille nicht so sehr, als dass es diese ueberhaupt erst hoerbar mache. Handke gelingt etwas noch viel Gewagteres: Er laesst uns vor geknallten Tueren zusammenzucken durch den Superlativ von leise.

Jemandem vorzuhalten, dass er nie, nicht im Leisesten, je eine Klinke druecke, laesst auf unerfreulich nervoese Nahverhaeltnisse schliessen. So kurios privatistisch wirkt alles in dem neuen Handke-Buechlein, das sich auch wie ein verschluesselter Kassiber aus einer Kleinfamilienhoelle mit Vater, Mutter und Kind liest. Nicht selten sind ja Familien Pflanzstaetten bizarrer sprachlicher Sonderentwicklungen und insofern poetisch-mythologisch ueberaus fruchtbar. Und was fuer ein wunderbarer, maerchenhafter, komischer Text ist jetzt bei Handke daraus geworden! Dieser Autor ist sein eigener schlimmster Feind, denn waehrend seine letzten Erzaehlwerke laengst die Felsschroffen eines grotesk verwitternden Humors erklommen haben, lenkt er selbst davon ab, indem er die OEffentlichkeit mit bombastischen serbischen Andersmei-nungen quaelt. Handkes neuer Humor wurde schon in seinem letzten Roman (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) fast ueberall verkannt, und wer weiss, vielleicht zuendet er auch jetzt nicht im Leisesten.

Lucie im Wald mit den Dingsda ist ein Kunstmaerchen, also eine Geschichte, die so naiv und drohend-tiefsinnig daherkommt wie ein Volksmaerchen, in Wirklichkeit aber ein ausgekluegeltes Dichterartefakt ist. Es geht los in einem Haus, das zwischen zwei Kinderwelten gelegen ist: Nach hinten geht es auf einen struppigen, dichten Wald, auf eine alte Maerchenlandschaft, nach vorn auf eine moderne, schimmernde Grossstadt am Meer, die gut zur Kulisse eines Comics taugen koennte. Im Wald ist sonderlingshafte Vaterwelt, in der Stadt arbeitet die Mutter als Polizistin. In der Mitte lebt das zehnjaehrige Kind Lucie, das aber nicht so heisst, sondern nur so heissen will, im UEbrigen auch erst sieben ist, aber gern aelter waere. Ein Maerchen ist der Text auch deshalb, weil er erst einmal beginnt wie der Wunscherfuellungstraum des Kindes, das schoener heissen und aelter sein darf als in Wirklichkeit.

Die Geschichte, die sich zwischen Vater, Mutter und Kind entfaltet, ist so wurzelholzhaft verzwirbelt, dass sich eine Nacherzaehlung verbietet. Offenbar moegen sich die Eltern nicht recht, und auch das Kind schwankt in seinen Sympathien. Die Mutter knallt Tueren, der Vater stammelt ellenlange Saetze und sammelt unappetitlich riechende Waldfruechte. Diesen wortgewaltig stotternden Waldgaenger meint man aus Handkes Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht (einem Maerchen aus den neuen Zeiten!) von 1994 zu kennen, wo er als Pilze sammelnder Rucksacktraeger durch die Laubwaelder um Paris streift. Um die von Lucies Vater gesammelten Waldfruechte, deren Bezeichnung vielleicht zwanzig Mal wechselt (von Mulm ueber Dingsbums und Dickfuss zu Waeldersattsamkeiten) wird ein geheimnisvolles Gewese gemacht, denn diese sich zu Zwergen auswachsenden Waldwesen muessen am Ende dem Kind helfen, den asozialen Vater aus dem Gefaengnis zu retten, in das der Koenig der Stadt ihn geworfen hat - in der zweiten, etwas bedeutungshuberischen Haelfte dieses Kunstmaerchens. Was sind diese Dingsda aus dem feuchten Waldesinneren eigentlich? Wir vermuten: Woerter, die Fruechte der Dichtung, die irgendwann zauberisch selber laufen lernen und die neue Welt drunten in der Stadt anstaunen.

Die Aufloesung der Maerchenhandlung - Rettung und Versoehnung der Eltern durch das Kind, die Rueckkehr der Familie aus der Seestadt ins Waldhaus - hat den Zauber eines Jean Paulschen Wunders. Die Dingsda haben ihren Dienst getan, die Welt liegt in strahlender Schoenheit, und auf einmal faellt ein Satz, der vermutlich ein Zitat ist (aus Goethes Wanderjahren, aus Stifter oder doch von Jean Paul?), jedenfalls aber so klingt: Das Schweigen versprach sich selber Schweigen und zeigte sich voller Liebe. Handkes Text steht auf der Hoehe solcher Poesie: Jedes Wort wirkt notwendig, aber man kann eigentlich nicht sagen warum, alles wirkt abwegig, zugleich aber auf eine suggestive Art vertraut. Das ist maerchenhaft und in einem intellektuellem Sinn ueberaus romantisch. Und was tut die gerettete Familie am Ende? Sie sitzt zusammen an einem recht komischen, kurios einleuchtenden, sehr wohlklingenden Ort, auf der Waldwaertsveranda.


Peter Handke: Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte. Suhrkamp Verlag,Frankfurt am Main 1999. 90 S., mit 11 Skizzen des Autors, 28 Mark.

Berliner Zeitung vom 04.09.1999



 



 

 



 

 



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=Ich hab Dich sehr gern=

Nicolas Born und Peter Handke im Briefwechsel: Eine ueberraschende maennlich-romantisch-vaeterliche Freundschaft

VON INA HARTWIG

=Es waere gut, wenn Du einmal kaemst.= =Es war sehr schoen, mit Dir zu sprechen.= =Es waere mir lieber, Dich zu treffen als diese kurzen Briefe zu schreiben.= =Ich habe sehr grosse Lust, dich bald wiederzusehen.= =Ich freue mich schon, waehrend ich Dir schreibe, Dich zu sehen.= =Ich hab Dich sehr gern - jetzt allein in der Wohnung, beim Rumpeln des Zugs vorm Fenster, kann ich das einmal sagen.= So koennte man immer weiter zitieren aus dem in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Briefwechsel zweier Maenner, deren Freundschaft allein vom Ton her sich der intellektuell-linken Betriebsamkeit des Zeitgeistes widersetzte, ohne deshalb politisch in andere Fahrwasser zu geraten.

Nicolas Born und Peter Handke waren, als sie sich 1972 auf der Frankfurter Buchmesse kennenlernten, 35 und 30 Jahre alt; wobei der Juengere, naemlich Peter Handke, gerade eine unvergleichliche Karriere machte (1973 folgte der Buechnerpreis), waehrend der aeltere, also Born, zwar als Schriftsteller einen Namen hatte ( Marktlage, Das Auge des Entdeckers), doch niemals die Popularitaet und den Erfolg eines Peter Handke erleben sollte. Er hatte allerdings auch nur ein kurzes und zum Schluss durch gleich mehrere Katastrophen ueberschattetes Leben: Borns Bauernhaus im Wendland brannte ab; die Anti-Atombewegung verschlang seine Kraefte; er erkrankte toedlich und starb Ende 1979 an Lungenkrebs. Unlaengst ist dank der Born-Gedicht-Ausgabe im Wallstein Verlag dieser feinsinnige, sympathisch vergruebelte Autor wieder zurueckgekehrt ins allgemeine Bewusstsein (vgl. FR vom 15. 12. 2004).

=Ich erinnere mich an seinen letzten Besuch, das war Anfang Dezember , kurz vor dem Tod meines Vaters=, schreibt Katharina Born in der juengsten Nummer des Schreibhefts, in dem der Briefwechsel zwischen Born und Handke erscheint. Katharina Born, die damals sechs Jahre alt war und letztes Jahr die Gedichte ihres Vaters herausbrachte, faehrt fort: =Wir Kinder, meine Schwester Rike und ich, liebten Handke wie einen grossen gutmuetigen Drachenfreund. In der Badewanne wusch er uns so heftig die Koepfe, dass wir vor Lachen kaum noch Luft bekamen. Bereitwillig wie hilflos liess er sich dann unsere wilden Indianerspiele gefallen, sich an Stuehle fesseln und in die Toilette einsperren, waehrend im oberen Stockwerk der Freund starb. Und wir merkten kaum, in welcher Not er fuer uns da zu sein versuchte.=

Wenn dieser Briefwechsel als Zeugnis einer romantischen Maennerfreundschaft im Kleid der siebziger Jahre lesbar ist, so muss man hinzufuegen: Es war eben auch eine Freundschaft zweier Vaeter - und zwar der Vaeter von Toechtern. Peter Handke lebte alleinerziehend mit seiner Tochter Amina in Clamart bei Paris, Born hingegen war ein Familienmensch. Aus erster Ehe hatte er die Tochter Undine, nun lebte er mit seiner zweiten Frau Irmgard, einer Kinderaerztin, und den beiden Toechtern Katharina und Rike nahe der Elbe bei Luechow-Dannenberg. ueber Irmgard bemerkt Born, sie sei eine =gruendliche Arbeiterin=, =und das gefaellt mir=.

Die Kinder als Medium ihrer Gefuehle


Der eine, Born, hat also eine starke Frau (die Geld verdient) und einmal eine beunruhigende Affaere, von der er dem Freund erzaehlt; der andere aeussert sich zu diesen Dingen nicht. Der Verdacht, Handke habe eine keusche Seite, draengte sich schon frueher auf und bestaetigt sich hier: Er zieht es vor, Born sein Leben als Vater anzuvertrauen - wie er Amina pflegt, als sie krank ist, oder wie sie mit einem anderen Kind spielt -, als ueber Frauenstorys sich zu verbreiten. Das Medium ihrer tiefsten Gefuehle sind die Kinder.

E s wird ja immer gesagt, die Kulturrevolution, die nach allgemeiner Sitte unter dem Titel =68= gehandelt wird, habe das Verhaeltnis zwischen Maennern und Frauen umgestuerzt. Viel zu leicht vergisst man, dass auch unter Maennern ganz neue Sprachformen erobert wurden. Die neue Maennlichkeit jedenfalls, die Borns und Handkes Korrespondenz zum Ausdruck bringt, ist niemals protzend, niemals steif, sie ist das Gegenteil von Internat, Korpsgeist und Gehorsam. Ja, sie ist zutiefst antiautoritaer, antikonventionell; sie ist privat, fast privatistisch, und vor allem: suchend, poetisch (was hier identisch sein mag). Ein Hauch von Jungem Deutschland liegt in der Luft, doch ohne den nationalen Impetus. Weder Born noch Handke sind Kollektivcharaktere. Sie sind zwar nicht gerade menschenscheu, doch hielten es beide nur schlecht in groesseren Gruppen aus. Fuer Handke gilt das ganz besonders.

Das allgemeine =Literaturbrausen=, an dem sie dennoch mehr oder weniger eifrig teilnahmen (als Petrarca-Juroren, Rezensenten, Literaturmagazin-Herausgeber), oedete sie an. Was fuer Handke das Reisen bedeutet, duerfte fuer Born der Rueckzug aus dem Berliner Literaturbetrieb auf's Land gewesen sein; in jedem Falle schafften sie beide die Bedingungen fuer ein Leben in Selbstbeobachtung. Und hier liegen dann die Unterschiede. Bleibt Born vorsichtig, tastend, bisweilen ungeschickt, so gibt sich Handke in seiner Unsicherheit sehr sicher.

Einige der insgesamt 44 Briefe gehoeren zum Besten, was die Siebziger-Jahre-Selbstzweifel-Innerlichkeits-Literatur zu bieten hat. Handke: =Ich habe es, seit Monaten, schwer mit meiner Identitaet, d.h. mit meinem Gestaltbewusstsein, mit dem Bewusstsein meiner Grenzen: oft habe ich das Gefuehl, nichts mehr zu sein, also auch keine Grenzen mehr zu haben - oft freilich fuehle ich mich (eigtl. nicht oft) schoen grenzenlos, d.h. weitraeumig, zumindest.= Borns fragilere poetische Selbstbestimmung verwandelt Handke, den das Schreiben im Unterschied zu seinem Freund grundsaetzlich staerkt, einmal in ein ruehrendes Kompliment. ueber Borns neue Gedichte sagt er, es sei = Dein Reden, Deine Fahrigkeit und Dein ploetzliches Sprechenkoennen, die Anmut drin=.

Allerdings, das Literaturgespraech verlief nicht immer schmerzfrei. Handke rezensierte Borns Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte 1976 fuer die Zeit, ein Lob. Doch als er ein andermal bemerkt (was er spaeter zuruecknimmt, doch da ist der Schaden schon angerichtet), Borns Sachen haetten =keinen Glanz=, spuert der Angegriffene =Kaelte=. Immerhin, Handke entschuldigt sich. Er muesse unbedingt wieder schreiben, lautet seine Antwort, deshalb sei er unleidlich, ja feindlich: =Es ist wie ein Daemon aus nichts als harten Knochen.= Letztlich war es wahrscheinlich Borns liebevolle, dabei nicht unkritische Bewunderung fuer Handke, die alles zusammenhielt. Born wusste: =ich bin der einzige Leser.= Und meinte doch wohl: Ich bin der einzige, der dich versteht.

Nicolas Born / Peter Handke: =Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974-1979.= Schreibheft, Nr. 65. Hrsg. von Norbert Wehr.
Rigodon-Verlag, Essen 2005, 10,50 Euro.


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